Seidem ich als rasender Reporter für Betreutes Proggen unterwegs bin, habe ich schon von vielen Konzerten berichten dürfen. Unbekannt war es mir allerdings bisher, über zwei Bands Bericht zu erstatten, die ich beide vorher nur von ihrem Namen her kannte. Tatsächlich hatte ich weder von Unprocessed, noch von Polyphia vor diesem Auftritt im Kölner Gebäude 9 jemals auch nur einen einzigen Song gehört. Ich hatte beschlossen, mich überraschen zu lassen, überraschen von zwei Gruppen, die mir beide schon mehrfach empfohlen und ans Herz gelegt worden waren.
Als ich im Gebäude 9 ankomme, habe ich also keine wirklich Ahnung davon, was mich heute erwartet. Ich habe ja mit viel gerechnet, aber bestimmt nicht mit einer (fast?) ausverkauften Location, einem so jungen Publikum und auch nicht mit so vielen weiblichen Fans. Nun gut, es scheint wohl kein gewöhnlicher Progressive Metal-Abend zu werden, oder doch?
Die ersten Klänge der deutschen Formation Unprocessed lassen keine großen Überraschungen erwarten. Das ist allerdings auch gar nicht nötig, denn was der Fünfer aus Wiesbaden auf die Bühne zaubert, dass ist moderner Progressive Metal mit technischer Präzision. Progressive Metal dient hier allerdings nur als Überbegriff, denn die Hessen vermischen Einflüsse aus Prog, Djent, Metalcore und Post Metal zu einem appetittlichen Happen. Vergleichbar ist ihre Musik vielleicht am ehesten mit jener ihrer französichen Labelkollegen Uneven Structure (beide Bands sind bei Long Branch Records zu Hause) oder mit der von Periphery, mit denen sie im kommenden Juni auf Tour gehen werden. Der größte Unterschied zu den beiden Bands ist übrigens, dass Sänger und Gitarrist Manuel Gardner Fernandes fast vollständig auf Screams und Growls verzichtet.
Was Gardner Fernandes und seine Kollegen Christoph Schultz (Gitarre), Christopher Talosi (Gitarre), David Levy (Bass) und Leon Pfeifer (Schlagzeug) musikalisch bieten ist übrigens ein Ohrenschmaus. Zwar dachte ich mir beim ersten Anblick, dass drei achtsaitige Gitarren und ein füngsaitiger Bass ein wenig übertrieben wären, doch das Ergebnis überzeugt mich schnell. Dieftönige Grooves, wildes Drumming, frickelige Soli, eingängige Melodien und ein Frontmann mit ansteckendem Charisma sind in ihrer Kombination einfach unwiederstehlich mitreißend.
Das Publikum ist ob der Darbietung der Wiesbadener begeistert und zeigt dies der Band in Form von Jubel und Moshpits. Es ist ein überzeugender Auftakt der meine Erwartungen um Weiten übertroffen hat.
Was nun allerdings folgt, dass hätte ich mir im Leben kaum vorstellen können. Es ist eines der außergewöhnlichsten Live-Konzerte, denen ich in den letzten Jahren beiwohnen durfte. Einer der Hauptgründe hierfür ist zu aller erst einmal die Musik, die Polyphia spielen. Wer Progressive Metal als Summe von Prog und Metal versteht, der könnte im Falle der vier Texaner kaum weiter daneben liegen. Was Polyphia auf ihren Instrumenten erklingen lassen, dass ist eine Fusion aus, Hip-Hop, Trap Music, EDM, R&B, Jazz und Pop. Wie das mit Progressive Metal zusammenpasst? Ganz einfach; Timothy Henson und Scott LePage benutzen dieses musikalische Gerüst rockfremder Genres, um auf ihren Gitarren in bester Prog-Djent- und Math-Rock-Manier kreativ daherzushredden. Während Clay Gober (Bass) und Clay Aeschliman (Schlagzeug) für das rhythmische Rückgrat sorgen, spielen die beiden Gitarristen nicht nur Lead- und Rhythmusgitarre, sondern auch jene Melodien, die bei nicht instrumentalen Bands normalerweise von Sängern oder Sängerinnen übernommen werden.
Was auf dem Papier bzw. dem Rechner schon aberwitzig klingt, dass ist als Live-Erlebnis einfach unvergleichlich. Polyphia sind progessiv im doppelten Sinne des Wortes. Während die Musiker hinsichtlich Virtuosität, Fingerfertigkeit und technischer Brillianz ganz klar in der Tradition von klassischen Prog-Bands stehen, beschreiten sie vor allem in Sachen Experimentierfreude musikalische Wege, die keine mir bekannten Gruppen bisher gegangen sind. Genau so muss Prog im 21. Jahrhundert klingen! Hinzu kommen eine Spielfreude und eine Bühnenpräsenz, die auf das Publikum elektrisierend wirken. Schon ab dem ersten Lied verwandeln die US-Amerikaner die alten Gemäuer des Gebäude 9 in eine Partymeile: Lachen & Singen, Tanzen & Springen, Polyphia sind da! Ja tatsächlich, obwohl es sich heute um rein instrumentale Musik handelt, singt das Publikum immer wieder lautmalerisch einzelne Gitarrenlinien mit. Tanzen und springen kommen hingegen in Form von Slow-Motion-Pogo vor. Oder sollte man diese Form des Moshpits vielleicht besser als Kuschelpogo bezeichnen?
Da die Bandmitglieder das Publikum immer weiter anstacheln und pushen, nimmt die Stimmung im Laufe des Abends immer weiter zu. Es ist groovende Gute-Laune-Musikik auf technisch höchstem Niveau. Wie weit die Musiker das Publikum an diesem Abend treiben, dass wird am Beispiel einer Discokugel deutlich: als diese von der Band über dem Publikum hängend entdeckt wird, meint einer der Gitarristen, das es geil wäre, wenn diese laufen würde. Als die Kugel dann wirklich in Gang gesetzt wird, setzt er noch einen drauf und verspricht demjenigen, der ihm die Kugel bringt, diesen zu heiraten. Das Publikum lässt sich das natürlich nicht zweimal sagen, so dass umgehend erste Versuche unternommen werden, den Mirror Ball abzuhängen. Da dies schwieriger und gefährlicher ist, als man denkt, schreitet die Security ein, bevor eine Verlobung ausgesprochen werden kann.
Als das Konzert sich dann dem Ende neigt und der Zugabenteil erreicht ist, heitzt die Band noch ein letztes Mal die Stimmungung an, in dem sie zum Crowdsurfen ermuntert. Gesagt getan, binnen Sekunden befinden sich bis zu einem halben Dutzend gleichzeitig über den Köpfen der Menschen und werden mit deren Händen weitergereicht. Die Menge feiert ausgelassen und ist bester Laune.
Was für ein Abend!
Text und Live-Fotos: Floh Fish
Setlist:
Unprocessed
Polyphia
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