(42:50, CD-R, Eigenveröffentlichung, 13.09.2022)
Ebenso überraschend wie das Chandelier-Comeback kommt plötzlich wie aus dem Nichts ein Solo-Album des Sängers der deutschen Neo-Progger. Die Hoffnung auf ein Studio-Comeback der ursprünglich aus dem Neusser Raum stammenden Band bleibt erhalten, doch es dürfte noch eine ganze Weile dauern. Dafür aber nun dieses unverhoffte neue Lebenszeichen von Martin Eden. Und das Staunen wird noch viel extremer nach dem ersten Hörduchgang. Was erwartet man denn von einem Sänger einer Neo-Prog-Formation, der gelegentlich auch zu einer akustischen Gitarre gegriffen hat? Vermutlich entweder ein Album mit Unterstützung diverser Musikerkollegen, das ähnlich gestaltet ist wie von seiner Stammband – oder vielleicht eher etwas in Richtung Singer/Songwriter. Alles weit gefehlt! Es mag sehr gut sein, dass es dem Chandelier-Fan überhaupt nicht gefällt, aber eine ganz andere Klientel sich hiermit anfreunden kann. Aber eines ist sicher, mit derartiger Musik hätte man wohl eher nicht gerechnet.
Der 20-minütige Opener ‘Mary’ lässt sich grob in vier Abschnitte einteilen. Zunächst startet das Album mit einem eigenartigen Mix aus Ambient und World Music, wo man kaum erkennt, welche Klangerzeuger hier genutzt wurden. Doch bald wird zumindest schnell erkennbar, dass es sich hier um den Sänger von Chandelier handelt. Bedächtiges Klavierspiel und seine unverkennbare Stimme lassen keinen Zweifel und die Vermutung zu, dass es sich nun in die erwartete Richtung entwickelt, nämlich Neo Prog. Also das, wofür seine Stammband schon seit den 90ern bekannt ist. Doch weit gefehlt. Nach der durchaus schönen Melodie (erinnert ein wenig an Gabriels ‘Here Comes the Floood’) folgt der längste Part dieses Songs, der geprägt ist von ausgedehnten Mellotronflächen. Die Streicher geben nun für lange Zeit den Ton an und sorgen für eine intensive Atmosphäre. Es lässt sich natürlich darüber streiten, ob man diese Phase des Songs etwas kürzer hätte halten können oder sollen, jedenfalls besitzt dieser Abschnitt so seinen eigenen Charme, wie sich die Begleitung zu den Mellotronstreichern unauffällig, aber stetig immer mehr zum dominanten Teil steigert. Recht experimentell, fast schon avantgardistisch, und den Neo-Prog-Fan vermutlich eher abschreckend, doch zumindest erreicht dieses Arrangement den Rezensenten – was allerdings nicht für alle Instrumentalausflüge auf diesem Album gilt. Die letzte Minute des Songs wird dann zu einer Ruhephase mit seichten Tastenklängen.
Ruhe vor dem Sturm – denn das (zum Glück?) recht kurze ‘Consensus’ klingt zu Beginn wie Avantgarde zum Headbangen, ein wildes Durcheinander und alles andere als eine melodische Wohltat – so zumindest die erste Hälfte dieses Tracks. Danach wird etwas Dampf rausgenommen, doch es bleibt bei einer insgesamt recht aggressiv wirkenden Nummer. Der Kontrast zum Vorgänger könnte kaum größer sein, denn mit ‘Le Pays de la Paix’ folgt die eindeutig schönste Nummer des Albums. Wie der Titel schon andeutet, wird hier in französischer Sprache vorgetragen. Mag sein, dass dies noch eine Art Tribut an ihre 90er Zeit ist, wo Chandelier auch in der französischen Neo-Prog-Szene einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichten, die auch zu Live-Auftritten beispielsweise in Paris führten. Die wunderschöne Melodie wird vom E-Piano begleitet. Nach und nach gesellen sich dann, ähnlich wie im Opener, seltsame Begleittöne dazu, die im Laufe der Zeit mehr und mehr die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das 7 ½ minütige ‚De Zachtmoedigheid van de Tovenaar‘ schließt das Album stimmig ab. Auch hier wieder zunächst sachte Töne, zu denen sich dann mehr und mehr Soundexperimente gesellen, am Ende klingt es dann wieder wie das Intro zum Longtrack. Bisweilen hat dies einen gewissen Frippertronics Charakter, nur halt in seinem eigenen Stile umgesetzt, also Edentronics. Der Musiker selbst stuft sein Album in die Kategorie “Prog-Loops” ein.
Das Coverbild stammt von Ingo Steinhäußer und trägt den Titel „Rauchende Giraffen surfen auf schmelzenden Eisbären II“. Irgendwie passt es ins Gesamtbild, dass sich Martin ein Bild mit einem derartigen Titel ausgesucht hat. Und auch für ihn typische Bemerkungen wie „Private pressing – for talented ears only“ belegen seinen Humor. So auch die Auflistung der beteiligten Musiker, die sehr knapp ausfällt, da er alles selbst eingespielt hat und man somit von einem wahren „Solo“Album sprechen kann. Im Booklet ist nämlich nachzulesen, dass
„All compositions, improvisations, lyrics, instruments, vocals and mistakes by Martin Eden”.
Zuständig für das Mastering waren Bandkollege Armin Riemer sowie Left Engelmann.
Ein überaus eigenwilliges Album, das uns der Chandelier-Frontmann hier präsentiert. Weit entfernt von irgendwelchem Mainstream lebt er hier seine ganz eigenen musikalischen Ideen aus, die zum größten Teil (aus Gründen) nicht auf ein Chandelier-Album gepasst hätten. Überraschend wenig Gesang, dafür aber ausgedehnte Instrumentalparts, in denen er seine “Prog-Loops” präsentiert. Für talentierte Ohren…
Bewertung: 10/15 Punkten
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Abbildungen: Martin Eden