(01:13:57, CD/2LP, Inside Out Music/Sony Music, 2018)
Das Jahr 2018 ist noch zu jung um Titulierungen wie “Album des Jahres” überhaupt in den Mund zu nehmen. Das sollte man meinen. “Vier”, das neuste Oeuvre der zwischenzeitlich zum Trio geschrumpften Perfect Beings um den in L. A. ansässigen Gitarristen und Produzenten Johannes Luley (hier im Interview 2017), macht es dem Rezensenten jedoch schwer solche Formulierungen zu unterlassen. Zumindest muss man konstatieren, dass die Messlatte für ein Prog-Album des Jahres wohl selten bereits im Januar in solch frostigen Höhen plaziert wurde, wie es die Beings Hurtgen, Luley, Nason und Co. mit “Vier” getan haben.
Dass das Werk dadurch zu Everybody’s Darling wird, ist dennoch zu bezweifeln, denn es verlangt dem Hörer auch einiges ab. Allzu viele Ausschlusskriterien darf man nicht im Gepäck führen. Die stilistische Spannweite der auf vier LP Seiten verteilen Suiten mit den Überschriften. ‘Guedra’, ‘The Golden Arc’, ‘Vibrational’ und ‘Anunnaki’ ist nämlich selbst für ein Prog-Album weit gefächert. Neben offensichtlichen Einflüssen wie Yes, Genesis, King Crimson oder Pink Floyd, wagt sich “Vier” noch auf etliche weitere Terretorien. Dazu zählen neben Fusion-Jazz, Ambient, Leftfield, Worldmusic auch einige von der Klassik geprägte Passagen. Lediglich den oft mit modern verwechselten Prog-Metal lässt man geflissentlich links liegen. Wunderbarerweise fügt sich das alles mit jedem Hören mehr und mehr zusammen, und wo es anfangs eventuell noch ein unverständliches Kopfschütteln gab, macht sich ein verzücktes Lächeln breit.
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Während ‘Guedra’ von wilden Fusion-Jazz Eskapaden bis hin zu zu ruhigen Gesangspart reicht, ist ‘The Golden Arc’ deutlich klassisch geprägt. Im eröffenenden Part ‘The Persimmon Tree’ kommt Maurice Ravel in den Sinn. Auch an Soundtracks von Hans Zimmer wird der eine oder andere Hörer denken. Jesse Nason glänzt mit einigen schönen Synthläufen. ‘Vibrational’ wiederum gibt sich stark elektronisch und verbeugt ganz unverhohlen und kurz vor Pink Floyds Maschine. Über ‘Anunnaki’ schwebt eine fast sorglos poppige Attitüde, ohne auch nur eine Minute Gefahr zu laufen ins Belanglose abzudriften. So hat jede der vier Suiten ihre eigene Grundstimmung, die aber immer wieder überraschend durchbrochen wird. Sowohl Jesse Nason als auch Johannes Luley zeigen sich stilistich äusserst vielseitig an ihren Instrumenten. Ryan Hurtgens Gesang ist wunderbar unamerikanisch und charakterstark. Das jazz-geschulte Spiel von Gast-Schlagzeuger Ben Levin rundet das Werk ab.
Aus dem derzeitigen Portfolio von InsideOut Music sticht “Vier” deutlich heraus, und man freut sich einfach, dass wieder mal einer wirklich innovativen Band die Möglichkeiten dieses profilierten Labels zu Gute kommen, das sich in den vergangenen Jahren etwas auf seinen arrivierten Acts ausgeruht hat. Glückwunsch zur Verpflichtung von Perfect Beings.
In den nächsten Wochen darf man gespannt sein, ob und wer denn noch den Versuch unternimmt, ein “Album des Jahres” zu veröffentlichen. Einfacher ist es nach “Vier” sicher nicht.
Bewertung 15/15 (WE 14, DH 15, GH 12, HK 14, KR 13, KS 13)
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6 Kommentare
Hallo Dieter,
hinsichtlich der von Dir ausgewählten Aufnahme möchte ich etwas hinzufügen. Wenn Du schreibst, es seien auf dem Album offensichtliche Einflüsse wie Yes, Genesis, King Crimson oder Pink Floyd vorhanden, ist dieser Song sehr deutlich geprägt von The Church, Album Sometime Anywhere (1994), dort: My little Problem und Lullaby. Ein späteres Album von The Church, das mit den Songs Loveblind, Angelica und Fly home herausragt.
Hallo Volker,
ist auf alle Fälle schön, dass sich jemand an “Sometimes Anywhere” erinnert. Ein ganz großartiges Album, dass völlig zu unrecht kaum Beachtung fand. Ich persönlich höre diesen Zusammenhang jetzt zwar nicht so deutlich, aber jeder empfindet das anders. Ich glaube auch das beide Alben ein ähnliches Publikum ansprechen sollten. Steve Kilbey ist natürlich lyrisch auf einem ganz eigenen Niveau, wobei er sicher mit Hurtgen die Affinität zum Spirituellen gemein hat. Im Übrigen geht Kilbeys neustes Album mit Martin Kennedy in eine sehr ähnliche Richtung und ist sehr, sehr gut.
Hi Dieter,
danke für Feedback und die gemeinsame Einschätzung wg. The Church. Und was die unterschiedlichen Empfindungen wegen progressiver Musik betrifft, die Gemeinsamkeit im Allgemeinen besteht darin, dass wirklich gute Werke ein zeitloses Empfinden entfalten. Musiker der Neuzeit “holen” sich dieses Empfinden, indem sie auf die musikalische Historie der progressiven Rockmusik aufbauen und wunderbar erweitern (vgl. Steven Wilson et al).