(73:31, CD, STF Records, 2018)
Die Rebellion ist alt geworden. Weit und breit sind keine Berge mehr, kaum Bäume in Sicht. Vor hundert Jahren ging das trotz Monarchie und aufkeimendem Faschismus schon mal besser, auch und gerade hier in Deutschland. Es waren Menschen wie Gustav Gräser, Friedrich Muck-Lamberty oder Karl Wilhelm Diefenbach, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die bürgerliche Gesellschaft infrage stellten und für alternative Lebensformen warben – mehr als ein halbes Jahrhundert bevor der Begriff Hippie überhaupt erfunden wurde. In den kriegerischen und politischen Verwerfungen, die Europa während der 10er- und 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts erlebte, waren die sogenannten “Kohlrabi-Apostel” mit ihren Liedern von Frieden und Mutter Erde kaum geduldete Freaks ohne Glaubwürdigkeit, Fremde in einer fremden Welt. Neben Leuten vom Schlage eines Karl Fischer nahmen sie jedoch Pionierrollen für die sogenannte Wandervogelbewegung ein, die im Dritten Reich schnell verboten und vom Staatsapparat gewaltsam geschluckt wurde. Reformpädagogik und Freikörperkult, Lebensreform und New Age, Revival von Sturm und Drang: Die kulturellen Nachwehen dieser europaweit ähnlich schnell erfolgreichen wie unterdrückten Massenbewegung bekamen wir erst ab 1968 wirklich zu spüren. Im Jahr 2018 scheint neben reformatorisch verkrusteter Gesellschaftsdynamik und einigen zerstreuten Wandergruppen kaum mehr als ein wenig Holz mit Saiten von dem übrig, was um 1900 herum so vielversprechend begann. Die Waldzither als flirrende Stimme des Protests aber auch der Sehnsucht passt heute wie damals zum Zeitgeist. Sie war das offizielle Instrument der Wandervogelbewegung und ist als solches in der modernen Folkmusik weitgehend unbeachtet geblieben, selbst in der sonst für Geschichte so zugänglichen Neofolk-Subkultur. Und dennoch: Ein kleiner Kreis von Fans und Virtuosen hält diese Lauten-Variation bis heute am Leben.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Die Waldzither und ihre historische Bedeutung, ihre kulturelle Entstehung speisen auch den Klang, den Anderes Holz so ungerne in Worte zwängen wollen. Krautrock trifft Neofolk in poetischer Atmosphäre? Irgendwie psychedelisch mit einem Hauch Straßenmusiker-Charme? Songwriter in Endzeitstimmung? Oder doch Progressive Folk Rock? Worte sind Hülsen, dienen sich oft aber auch zur Orientierung an. Doch egal wie man Anderes Holz taxieren möchte, ihre musikalische No-Fucks-Given-Haltung weckt tausend Assoziationen und klingt wohl gerade deshalb so extrem eigen. Textlich ist Umbruch angesagt: Das Subversive in prosaischer Form beherrscht Sänger Dominique M. Täger wie seine Stimme und hält ein originelles Arsenal rebellischer Tropen bereit. Dem Aufstand in der spätindustriellen Ära widmet er aber vor allem dahingehend Interesse, dass er dessen neurotische Hilflosigkeit gegenüber den herrschenden Verhältnissen offenlegt. Das läuft besonders in ‘Dysfunktion’ und ‘Die Stadt’ über den Text, färbt aber auch auf die tonale Dringlichkeit genussvoll überbordender Longtracks wie ‘Ein Geheimnis’ oder ‘Der große Zampano’ ab. Rauschhaft tingeln Waldzither (Dominique), Drums (Flusi) und Bass (Tine) durch Songs, die kämpferisch und manchmal auch resignativ wirken, Hoffnung wecken oder Gefahr andeuten. Eine Ambivalenz, die in den gut 73 Minuten von “Fermate” tonangebend ist und es dem Trio erlaubt introspektiv zu klingen ohne in Kitsch zu ersaufen. Immer wieder taucht aus all dem die jaulende, grölende, heroisch meuternde Stimme von Kunde Waldzither auf. Der unkonventionellen Instrumentierung stellt er ein ebenso geschultes wie eigenwilliges Organ zur Seite, schafft Variation, klingt passioniert und roh. Nicht zuletzt durch die clevere Prosa von Stücken wie ‘Judo’ oder ‘Die bange Nacht’ erscheint die mystische Komponente dieser Musik, die das eigene Leben zur großen Erzählung erhebt, dann auch oft so greifbar und in sympathischem Maße übersteigert. Existenzialismus trifft auf Romantik, Kulturpessimismus wird zum unbedingten Aufbruchswillen, die Gewissheit unserer Gegenwart zum Drangsal einer musikalischen Flucht nach vorne.
Bewertung: 13/15 Punkten (NS 13, KR 9)
Surftipps zu Anderes Holz:
Homepage
Facebook
YouTube
Soundcloud
Instagram