
Progressive Rock• Prog Fusion • AOR
(1:01:01; Viny, (2LP), Digital; Spock's Beard - The Archaeoptimist (Madfish/Edel; 21.11.2025)
Es gibt Bands, die haben eine klare, lineare Entwicklung. Und dann gibt es Spock’s Beard. "The Archaeoptimist" markiert in ihrer Geschichte eine Zäsur – allerdings die vierte, wenn ich richtig mitgezählt habe. Erst ging Neal Morse, dann sang plötzlich Nick D'Virgilio, dann sang plötzlich Ted Leonard (während Jimmy Keegan trommelte, aber auch sang, weil bei Spock's Beard irgendwie jeder singt), dann kam D'Virgilio kurz zurück, dann wieder nicht – und jetzt stehen wir also vor der nächsten Mutation: Nick Potters. Und ja: Natürlich kann er auch singen. Ich bin fest davon überzeugt, dass man bei Spock's Beard nur dann Drummer werden darf, wenn man mindestens den Leadgesang auf "Wind and Wuthering" nachstellen kann.
Aber die eigentliche Zäsur trägt einen anderen Namen: Ryo Okumoto. Der Mann schreibt nicht nur Keyboardparts, er ist mittlerweile ein Keyboardpart. Für "The Archaeoptimist" übernimmt er das Steuer komplett – zusammen mit Michael Whiteman, der vielen schon durch Ryos Soloalbum "The Myth Of The Mostrophus" ein Begriff sein dürfte. Entsprechend fühlt sich diese Platte stellenweise auch eher an wie ein Ryo-Okumoto-Soloalbum, das zufällig von Spock's Beard eingespielt wurde. Nur dass Beard-Fans es vermutlich lieber hören als manches der echten Soloalben.
Für den Bandsound hat das enorme Konsequenzen. Ryos Keyboards sind überall – wirklich überall. Manchmal klingt das erfreulich oldschool nach klassischem Beard-Prog, dann wieder nach Ryos Solo-Fusion-Zauberei, und gelegentlich nach einem Instrument, das sich spontan dazu entschieden hat, heute Jazz zu sein. Diese Frischzellenkur tut der Band allerdings gut. So lebendig, neugierig und verspielt klangen die Bärte seit Jahren nicht mehr. Die Kehrseite: Nicht jede Wendung wirkt nachvollziehbar. An manchen Stellen fühlt sich das Album an wie ein intelligenter Gesprächspartner, der plötzlich mitten im Satz das Thema wechselt und erwartet, dass man elegant mitgeht.
Schon der Opener 'Invisible' (mit wunderbarem mehrstimmigen Gesangsintro) zeigt diese neue Handschrift – zugänglich, ja, aber unter der Oberfläche voller kleiner rhythmischer Gemeinheiten. 'Electric Monk' groovt dann mit typisch Meros'schen Bass-Haken durch die Gegend, während Leonard und Potters stimmlich so reibungslos harmonieren, dass man fast vermutet, sie hätten sich bereits als Kinder beim Kirchenchor kennengelernt. 'Afourthoughts' biegt dann in harmonisch verwinkelte Seitenstraßen ab; es ist der Song, der sich beinahe zu klug für seine eigene Catchiness gibt, aber im richtigen Moment trotzdem die Tür aufmacht. Und 'St. Jerome In The Wilderness' ist die atmosphärisch aufgeheizte Alan-Morse-Gitarrenmesse, die man so nicht erwartet, die aber exakt zur neuen Unruhe des Albums passt.
Der 20-Minuten-Titeltrack 'The Archaeoptimist' ist schließlich das Herzstück – und ein gutes Beispiel für die neue DNA. Kein Nostalgie-Epos, keine Morse'sche Süßwarenhandlung, sondern ein luftiges, modernes Stück Prog, das Szenen statt Sujets baut, Charakterentwicklung statt Tempoorgien liefert. Die Geschichte von einem Mädchen im postapokalyptischen Niemandsland, das zur Anführerin wächst, trägt tatsächlich das Wortspiel im Titel: Optimismus aus Ruinen. Und danach kommt 'Next Step', das seinen Namen ernst nimmt und zeigt, wie Spock's Beard 2025 klingen könnten, wenn sie ihren neuen Kurs weiterfahren: weniger Pathos, mehr Raum, viel Rhythmus.
'The Archaeoptimist' ist kein perfektes Album. Es ist manchmal zerfahren, gelegentlich übermütig und an zwei, drei Stellen vielleicht etwas zu sehr Ryo und etwas zu wenig Spock's Beard. Aber ganz ehrlich: Genau das macht es sympathisch. Denn die Bärte zeigen hier, dass sie nach 30 Jahren weder im Kreis laufen noch ihr eigenes Tribute-Programm spielen wollen.
Wenn "Octane" damals ihre Selbstbefreiung aus dem Morse-Schatten war, dann ist "The Archaeoptimist" die Selbstbefreiung aus dem Beard-Schatten.
Eine Band, die endlich wieder Zukunft hat – und sichtlich Spaß daran.
Bewertung: 12/15 Punkten
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Besetzung:
• Ted Leonard
• Alan Morse
• Ryo Okumoto
• Dave Meros
• Nick Potters
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Alle Abbildungen wurden uns freundlicherweise cmm zur Verfügung gestellt.

