
(38:39; Vinyl (2LP), Digital; Into The Daze Prod/Les Airs à Vif; 17.10.2025)
Dass Alben am selben Tag in zwei unterschiedlichen Versionen erscheinen, ist längst nichts Neues mehr. The Ocean veröffentlichen ihre Studioalben gern auch als reine Instrumentalversionen, Peter Gabriel ließ uns auf "i/o" sogar zwischen "Bright Side" und "Dark Side" wählen. Doch was FLIGHT CNCLLD mit "Safety Wire" vorlegen, ist ein ganz anderes Kaliber. Denn hier geht es nicht um alternative Abmischungen – hier wurden dieselben Songs gleich zweimal komplett neu eingespielt, in zwei grundverschiedenen musikalischen Welten.
Die Standard-Variante von "Safety Wire" zeigt das französische Duo – bestehend aus Drummer Florent Marcadet (bekannt von Hacride, Step In Fluid, Klone und Carpenter Brut live) und Multiinstrumentalist sowie Sänger Mars Carvalho – im progressiv-metallischen Habitat. Stilistisch bewegt man sich zwischen TesseracT, Karnivool und Architects, garniert mit vereinzelten Trap- und Hip-Hop-Einsprengseln. Das Ergebnis: ein druckvolles, clever arrangiertes Debüt voller Energie, aber noch mit klarer Bodenhaftung. Tight, professionell, emotional – aber eben auch vergleichsweise konventionell, wenn man bedenkt, aus welchem experimentellen Umfeld Marcadet und Carvalho stammen.
Spannend wird es, wenn man die Platte nach dem letzten Track einfach nochmal anwirft – diesmal in der "Cloud Version". Hier verwandeln FLIGHT CNCLLD ihre eigenen Songs in etwas völlig anderes: Ambientes Sounddesign, weiche Trap-Beats, ein beinahe nebelhaftes Vokalspiel – ausschließlich clean, schwebend, manchmal kaum greifbar. Die Aggression des Originals scheint aufgelöst, die Härte durch Zuckerwatte gejagt worden zu sein. Und doch: Die melodische DNA bleibt erkennbar, wenn auch nur schemenhaft. In Momenten fühlt man sich an Dredgs 'El Cielo", Radioheads "Kid A", Marillions 'House' ("marillion.com") oder Sleep Tokens 'Sugar' ("Sundowning") erinnert, ohne dass "Safety Wire (Cloud Version)" auch nur im Entferntesten wie eine Kopie wirkt.
Der eigentliche Clou liegt im Kontrast. Für sich genommen ist die reguläre "Safety Wire" ein starkes, aber nicht revolutionäres Prog-Metal-Debüt – während die "Cloud Version' fast zu sehr in ihre eigene Trägheit versinkt. Doch zusammen entfalten beide Varianten eine eigenartige Spannung: zwei Pole desselben emotionalen Kosmos, zwei Perspektiven auf dieselbe Identität. Und plötzlich beginnt das Konzept auf einer ganz anderen Ebene zu funktionieren – als Studie über Dichte und Auflösung, Wucht und Verletzlichkeit, Lärm und Stille.
Ich ertappe mich dabei, wie ich immer wieder in die "Cloud Version" zurückkehre. In diesen Brainfog. In dieses weiche Schweben, das die metallische Hülle des Originals durchdringt. Vielleicht, weil "Safety Wire" genau das tut, was progressiver Musik heute gut tut: Sie wagt sich hinaus in Zwischenräume, in Grautöne, in Luft.
"Safety Wire" ist ein mutiges Doppelalbum, das den Begriff „Alternative Version“ neu definiert. Eine Seite zeigt solide Prog-Metal-Handwerkskunst, die andere eine fast post-genrehafte Dekonstruktion davon. Zusammen ergibt das eine der spannendsten und konzeptuell klügsten Debütplatten des Jahres.
Anspieltipps:
'Skin Crawl' – in beiden Versionen hören!
'Don’t Follow The Light' (Cloud Version) – für alle, die ihre Emotionen lieber im Nebel finden.
'Cornutopia' – Prog trifft Trap, ohne sich zu widersprechen.
Bewertung: 12/15 Punkten
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• Florent Marcadet - Drums, Beatmaking
• Mars Carvalho - Vocals, Guitars, Bass
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Alle Abbildungen wurden uns freundlicherweise Oktober Promotion zur Verfügung gestellt.