Paradise Reclaimed
In den 90ern waren Paradise Lost neben Marillion die Band, die ich am häufigsten live gesehen hatte. Allerdings immer nur auf Festivals – Dynamo, Rock Am Ring, Bizarre –, meist als Headliner oder Co-Headliner. Damals standen die Briten auf dem absoluten Zenit ihrer Karriere. Doch es sollte bis 2001 dauern, bis ich sie endlich einmal in einer Halle erleben durfte: in Stuttgart, als Opener für The Sisters Of Mercy. Ein Abend, der sich mir eingebrannt hat – allerdings aus den falschen Gründen. Der Sound war breiig, die Bühne versank in Nebel, die Band war kaum zu erkennen, und die Setlist bestand ausschließlich aus Songs der letzten drei, eher elektronisch geprägten Alben. Für mich war das eine Zäsur, fast das Ende meiner Beziehung zu Paradise Lost.
Erst viele Jahre später – mit den beiden Alben "Obsidian" (2020) und dem neuen "Ascension" (2025) – hat mich das Feuer wieder gepackt. So stand für Ende Oktober mein erster Paradise Lost Headliner-Auftritt seit fast 25 Jahren auf dem Programm. Und als Bonus: die wunderbaren Messa als Vorband. Trotz gesundheitlicher Beschwerden war klar – das lasse ich mir nicht entgehen.
Messa
Messa eröffnen den Abend und machen vom ersten Ton an klar, dass sie heute keine halben Sachen spielen: ausschließlich Stücke ihres aktuellen Albums "The Spin" stehen auf der Setlist – jenem Werk, das bei uns schon zum Teapot Of The Week gekürt wurde.
Mit 'Fire On The Roof' legen sie treibend los – dunkle Synths, hell flackernde Lichter, aschwarze Eleganz. Ein Auftakt, der sofort fesselt und das Publikum in Bewegung versetzt.
'At Races' zieht den Drive noch weiter an: eine mitreißende Dark-Wave-/Post-Punk-Nummer, die zugleich kantig und hypnotisch wirkt. Der Bass pulsiert, die Gitarre schneidet scharf durch den Nebel – pure Energie, ungekünstelt und roh.
Mit 'The Dress' folgt ein frühes Highlight. Sara Bianchin haucht die Zeile
All my monsters…
– und die Rockhal hält den Atem an. Ihr Gesang: Wahnsinn. Der Groove: schwer und dicht. Dazu ein ausuferndes, fast trotziges Gitarrengejamme, das an die Siebziger erinnert und in einer wahren Explosion endet.
'Immolation' rückt den Gesang noch stärker in den Mittelpunkt. Nur von gezupfter E-Gitarre begleitet, klagt Bianchin zunächst leise, dann heult ihre Stimme auf, während Schlagzeug und Bass mit voller Wucht einsetzen. Es folgt ein verspieltes, freies Solo – klassisch Messa: emotional, riskant, ergreifend.
Mit 'Reveal' schlagen die Italiener*innen die Brücke zum Hard Rock: das Riff ist schwer und direkt aus dem Lehrbuch von Black Sabbath entliehen, das folgende Rhythmusgewitter macht daraus eine moderne Doom-Hymne. Fuckin’ Hard Rock’n’Doom – kompromisslos, wuchtig, perfekt ausbalanciert.
Zum Abschluss erklingt 'Thicker Blood'. Ein sphärisches Synthie-Intro, ein sanftes „Ohu uhu“ aus dem Off, dann entfaltet sich eine bittersüße Stimmung. Bianchin’s Vibrato trägt jede Note mit feinem Gefühl, während die Band langsam in sich zusammenfällt – kein lauter Schluss, sondern ein leuchtendes Verklingen.
Messa haben die Rockhal verzaubert.
Besetzung:
• Sara Bianchin - Gesang
• Rocco Toaldo - Schlagzeug
• Alberto Piccolo - Gitarre
• Marco Zanin - Bass
Paradise Lost
Als um kurz nach neun die Lichter erlöschen und die ersten Töne von 'Serpent On The Cross' ertönen, ist sofort klar: Paradise Lost sind zurück – und wie! Der Song vom neuen Album "Ascension" klingt live noch mächtiger als auf Platte, als wäre er ein verschollenes Juwel aus der "Shades Of God"-Ära. Nach wenigen Sekunden Gänsehaut. Nick Holmes growlt mit gereifter Autorität, Greg Mackintosh spielt sich gleich beim Opener ins Rampenlicht.
Mit 'Tragic Idol' und 'True Belief' folgen zwei Klassiker, die wie Brücken zwischen den Jahrzehnten wirken. Bei letzterem – dem einzigen Stück vom "Icon"-Album – branden die ersten echten Jubelstürme auf. Holmes, sonst oft stoisch, lässt ein zufriedenes Lächeln erkennen.
'One Second' entfaltet seine gothrockige Magie mit all dem Pathos, der 1997 so viele Fans spaltete, und 'Once Solemn' von "Draconian Times" bringt die Rockhal zum Beben. Mackintosh lässt seine Soli funkeln, das Publikum – sonst für luxemburgische Verhältnisse eher zurückhaltend – ist erstaunlich laut, agil und textsicher.
Mit 'Faith Divides Us – Death Unites Us' wird’s fast romantisch. Holmes bittet um Handylichter, und plötzlich glitzern hunderte kleine Sterne durch die Dunkelheit. Doom trifft auf Emotion – und es funktioniert perfekt.
'Pity The Sadness' greift dann tief in die Schatzkiste. Kein Song von "Gothic" oder "Lost Paradise", aber dieser Brocken aus den frühen 90ern schlägt ein wie eine Bombe. Das Publikum grölt mit, die Band grinst – man merkt: hier passiert etwas Besonderes.
Dann wird’s zäh, im besten Sinne: 'Beneath Broken Earth' wälzt sich in zentnerschwerem Tempo über die Halle, während 'Nothing Sacred' kurzzeitig Depeche Mode aufleben lässt. Holmes fragt nach Fans des "Host"-Albums – es bleibt still –, doch als die Synths einsetzen, wird plötzlich laut mitgesungen.
Und dann wieder pure Härte: 'Tyrant’s Serenade', ein weiterer neuer Song, zündet wie ein alter Hit. Holmes’ Growls sind kräftig, Mackintosh’ Leads glühen. Gut, dass Holmes diesmal auf Backing-Samples setzt, statt alles selbst zu singen – der Sound bleibt klar und druckvoll.
'Requiem', 'Mouth' und schließlich 'Say Just Words' bilden ein furioses Ende des Hauptsets. Spätestens bei letzterem gibt es kein Halten mehr:
Let me see your hands, Luxembourg!
ruft Holmes – und tatsächlich, alle klatschen, jubeln, schreien. Die Rockhal steht Kopf.
Als Zugabe gibt es keine der ganz großen Hits – kein 'Embers Fire', kein 'As I Die', kein 'Forever Failure'. Stattdessen überraschen Paradise Lost mit 'No Celebration' ("Symbol Of Life"), 'Ghosts' ("Obsidian") und 'Silence Like The Grave' vom aktuellen "Ascension". Drei Stücke, die perfekt zeigen, warum diese Band nach 37 Jahren immer noch relevant ist: Sie schauen nie zurück, sondern nach innen – und nach vorn.
For Jesus Christ!
ruft Holmes zum Abschied, halb Zynismus, halb Segen. Und während der letzte Akkord verhallt, bleibt ein Gefühl von Closure.
Ich verlasse die Rockhal mit einem breiten Grinsen. Der Abend hat das, was 2001 in Stuttgart verloren ging, wiederhergestellt: meinen Glauben an Paradise Lost. Sie mögen sich verändert haben – wer tut das nicht? – doch ihre Essenz, diese unverwechselbare Mischung aus Schwere, Melancholie und hymnischer Kraft, ist geblieben.
Wäre ich doch früher wieder zu ihren Konzerten zurückgekehrt. Aber vielleicht war genau dieser Abend nötig, um zu begreifen, warum Paradise Lost immer noch da stehen, wo andere nur hinblicken können. Legenden verlernen es einfach nicht.
Besetzung:
• Nick Holmes - Gesang
• Gregor Mackintosh - Gitarre
• Aaron Aedy - Gitarre
• Steve Edmondson - Bass
• Jeff Singer – Schlagzeug
Fotos: Prog in Focus
Chauffeur & Support: Michael Fischer
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• Rezensionen, Liveberichte & Interviews

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