(1:23:00; Vinyl, CD, Digital; Mute Records/[PIAS] 04.04.2025)
Yann Tiersen ist vor allem als Pianist bekannt und hat durch das Thema zum Film „Le fabuleux destin d’Amélie Poulain“ (dt.: „Die fabelhafte Welt der Amélie“) Berühmtheit erlangt.
Wäre dies die einzige musikalische Seite Yann Tiersens, hätte er wohl niemals seinen Weg auf unsere Webseite gefunden.
Doch 2019 zeigte der Bretone mit seinem Album „All“, was sonst noch in ihm steckt – eine Platte, bei der Tiersens Pianospiel auf Electronica sowie Elemente aus Ambient und Post-Rock traf und die stellenweise den Geist von Sigur Rós, den späten Talk Talk und auch Mike Oldfield atmete. In der Folge berichteten wir über sein Konzert in der Kölner Kantine.
Das Nachfolgealbum „Kerber“ schlug eine andere Kerbe: Auf dem 2021er Werk dominierten vornehmlich elektronische Klänge, die jedoch von Tiersens Pianospiel stimmungsvoll kontrastiert wurden.
Das 2022er Album „11 5 18 2 5 18“ hingegen kann als reines Elektronik-Album bezeichnet werden, bei dem Tiersen mit analogen Synthesizern und Samples experimentierte.
Auf Tiersens neuestem Album – inspiriert von Erfahrungen, die er während ausgedehnter Bootstouren auf hoher See machte – halten sich Electronica und Pianoklänge wieder die Waage. Allerdings auf ganz andere Weise als auf früheren Werken. „Rathlin From A Distance | The Liquid Hour“ ist in zwei gänzlich verschiedene, jedoch miteinander verbundene Teile gegliedert, die jeweils ihre eigene Klangsprache besitzen: „Rathlin From A Distance“ besteht aus acht vornehmlich instrumentalen, introspektiven Klavierstücken. „The Liquid Hour“ hingegen ist ein ausgedehnter, genreübergreifender Hybrid aus elektronischen Klängen und psychedelischen Rhythmen, in die Tiersen bewegende Melodien verwoben hat.
„Rathlin From A Distance“
„Rathlin From A Distance“ spiegelt Yann Tiersens Verbundenheit zu Natur und Umwelt wider, seinen Sinn für Nachhaltigkeit und Entschleunigung. Es ist eine Sammlung von Stücken, die die Eindrücke festhalten, die Tiersen während seiner Bootsreisen gewonnen hat. Die erste Nummer trägt den Namen seines Bootes: ‚Ninnog‘. Alle weiteren Stücke tragen die Namen von Orten im hohen Norden Europas, von Felsen, Inseln, Siedlungen. So ist ‚Fastnet‘ die englischsprachige Bezeichnung des Carraig Aonair, einer kleinen, von einem Leuchtturm gekrönten Felseninsel, die in der Keltischen See liegt und zugleich den südlichsten Punkt Irlands markiert. Das Titelstück ‚Rathlin From A Distance‘ bezieht sich auf eine spärlich bewohnte Insel vor der Küste Nordirlands, unweit der schottischen Halbinsel Kintyre, die vor allem für ihre hohen Klippen und ihren Reichtum an Seevögeln bekannt ist. ‚Tórshavn‘ trägt den Namen der Hauptstadt der Färöer-Inseln, ‚Norðragøta‘ hingegen den einer kleinen Siedlung an der Ostküste der färöischen Insel Eysturoy. ‚Papa Stour‘ ist der Name einer schottischen Insel, und ‚Bigton‘ ein kleiner Ort im Süden von Mainland, der Hauptinsel der Shetlands. Der ‚Caledonian Canal‘ schließlich ist die Bezeichnung eines Kanals, der durch den Great Glen verläuft und die Ost- und Westküste Schottlands miteinander verbindet.
Fast ausnahmslos handelt es sich bei diesen Titeln um ruhige Klavierstücke – ganz ohne Electronica, ohne Effekte. Kompositionen, die wie Gemälde wirken, in denen Tiersen Impressionen in akustische Bilder übersetzt.
There is something transformative about being at sea. Away from the noise and weight of the world, you are left with the raw, untamed forces of nature – and yourself. It is a space where you can begin to challenge your beliefs, your identity, your gender – even the person you thought you were. I began to shed the expectations, constructs, and roles that society places on us. The waves demand honesty. ‘Rathlin from a Distance’ is born of this experience. Each piano piece is tied to a place we visited, but also to a moment of meditation. They are maps to the self. They are meant to guide you to the core of who you are – not the version of yourself moulded by societal expectations. It is a call to connect, to be vulnerable, and to find solace in the authenticity that comes from facing the forces around – and within – you.
Es ist der Pianist Tiersen in Reinform – ganz so, wie man ihn von *Amélie* her kennt. Nur noch viel ruhiger, minimalistischer, introvertierter und vor allem nachdenklicher. Und obwohl in einzelnen Stücken auch mal das Tempo angezogen wird, lässt sich wunderbar die Entschleunigung nachempfinden, die Tiersen an Bord seines Bootes erlebt haben muss – so plastisch, dass die Einsamkeit und Langeweile greifbar wird, die einen bei solchen Reisen überkommen kann. Musik wie ein Film des Autorenkinos – mit empfundenen Längen, die nicht immer leicht zu ertragen sind, aber letztlich eine Welt beschreiben, die von den Krisen der Welt noch unberührt scheint.
At sea, you get to see the world as it is. The sea is the ultimate reality. There are no borders, and you can go everywhere. It really hits home the bullshit of borders.
„The Liquid Hour“
Die zweite Hälfte, „The Liquid Hour“, wechselt zu einem entschiedeneren, elektronischen Sound und stellt einen harschen Kontrast zum introspektiven „Rathlin From A Distance“ dar. Der Opener ‚Stourm‘ ist anfangs noch ruhig im Pianostil gehalten, entwickelt sich dann jedoch in Richtung Post’n’Art Rock Sigur-Rós’scher Prägung, um sich schließlich in eine Elektroniknummer zu verwandeln, die von Tiersens Ehefrau Émilie Quinquis gesanglich begleitet wird. Es wirkt, als sei Tiersen mit seinem Boot wieder auf festem Boden angekommen – und als müsse er sich nun den Realitäten stellen, die ihn dort erwarten.
‚Ninnog At Sea‘ und ‚Arne‘ bringen eine fast pop-lastige Note in das Album und sind thematisch nur schwer einzuordnen. Ersteres greift das Thema von ‚Ninnog‘ auf, verfremdet es elektronisch und kombiniert sanfte Beats mit cembaloartigen Klängen zu einer träumerischen Miniatur. ‚Arne‘, erneut mit QUINQUIS, hingegen lebt von nervösen Rhythmen, die auf eine düstere Grundstimmung treffen – eine Atmosphäre, die man als Electronic Post Rock umschreiben könnte.
Gleichzeitig spiegeln die weiteren Tracks dieses zweiten Teils aber auch Tiersens Wunsch nach sozialem und politischem Wandel wider und dürfen als Aufruf dazu verstanden werden. Besonders deutlich wird das im Titel des geisterhaften ‚The Liquid Hour‘ – und dessen aufwühlender, an The Alan Parsons Projects ‚Lucifer‘ erinnernder Rhythmik –, der die Übergangszeit zwischen innerer Stille und äußerem Handlungsdruck beschreibt, in der Gedanken und Handlungen ineinanderfließen.
Am deutlichsten aber wird dieser Aufruf im abschließenden ‚Delores‘, das nach der spanischen Antifaschistin Dolores Ibárruri benannt ist und nicht nur zum Wandel, sondern gar zum Widerstand aufruft.
So ist „Rathlin From A Distance | The Liquid Hour“ ein Album, das ein sehr breites Spektrum menschlicher Gefühle abdeckt – von introspektiver Reflexion bis hin zum eindringlichen Aufruf nach Veränderung und Umbruch. Ein spannendes Werk, das insbesondere im ersten Teil einige Längen aufweist, die allerdings konzeptionell begründet sind – und so dem zweiten Teil und dessen Botschaft noch mehr Nachdruck verleihen.
Bewertung: 11/15 Punkten
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![Yann Tiersen - Rathlin From A Distance / The Liquid Hour (Mute Records/,[PIAS] 04.04.2025)](https://www.betreutesproggen.de/wp-content/uploads/2025/04/YannTiersen_credit_AurelieScouarnec_25-300x200.jpg)
Yann Tiersen
Gastmusiker:
QUINQUIS – (Vocals – Tracks 9, 11, 13)
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Rezensionen:
„11 5 18 2 5 18 0“ (2022)
„Kerber“ (2021)
Liveberichte:
18.09.19, Köln, Die Kantine
Alle Abbildungen wurden uns freundlicherweise von Mute Records zur Verfügung gestellt.