Ein Abend zwischen Avantgarde, Folk und Progressive Metal
Esch also. Zweitletzte Station einer Tour, die gerade eben erst einen Tonträger in die Welt entlassen hat – und doch fühlt sich dieser Abend an, als würde man Leprous auf einer Art Zwischenstand ertappen. „Melodies of Atonement“ nennt sich der aktuelle Ritt durch Europa, ein Titel, der schwer nach Buße klingt, aber in der Rockhal eher wie eine Einladung wirkte, sich einmal gründlich freizuspülen. Interessant dabei: Während die Norweger im Frühjahr noch die große Zweiteiler-Show auffuhren, kommen sie nun mit einer bewusst abgespeckten Setlist daher. Weniger Opulenz, mehr Fokus – könnte man meinen. Oder einfach skandinavische Effizienz.
Dafür gab’s wieder das klassische Paket mit zwei Vorbands, als hätten Leprous beschlossen, wenigstens diesen Teil ihres Rituals nicht anzutasten. Zuerst durften die Finnen von Royal Sorrow das Publikum in die passende Schattierung Melancholie tauchen, bevor Gåte mit ihrem eigenwilligen Folk-Metal-Gebräu einmal mehr bewiesen, dass Norwegen musikalisch vermutlich irgendwo zwischen Fjordwasser und Hexenfeuer sozialisiert wird.
So weit, so vielversprechend – und doch lag in der Rockhal dieses unterschwellige Prickeln, dass dieser Abend mehr sein könnte als nur der vorletzte Tourstopp. Ein letzter Atemzug vor dem Finale. Ein Aufrütteln. Ein Abtauchen. Leprous eben.
Royal Sorrow
Royal Sorrow also – jene junge finnische Hoffnungstruppe, die ich seit ihrem Debüt "Innerdeeps" auf dem Schirm habe. Beim Euroblast musste ich sie noch in einem Kellerloch erleben, wo man kaum wusste, ob die stickige Luft oder die PA zuerst in die Knie geht. Umso gespannter war ich, wie ihr modern-proggiger Hybrid wohl auf einer vernünftig dimensionierten Bühne funktionieren würde. Immerhin werden sie inzwischen in einem Atemzug mit Vola, Voyager oder Tesseract genannt – PR-Hypetrain hin oder her, "Innerdeeps" hat gezeigt, dass so ein Vergleich nicht völlig aus der Luft gegriffen ist.
In der Rockhal bestätigte sich das sofort: Das Quartett wirkt auf der Bühne einfach richtig. Nicht wegen großer Effekte – davon gab es genau null – sondern wegen der offenen, energiegeladenen Bühnenpräsenz. Markus Hentunen gab den eleganten Frontmann mit klarer Körpersprache, mal expressiv, mal intensiv fokussiert. Gitarrist Tony Olsén und Bassist Eero Maijala machten den Raum mit ständiger Bewegung und viel direkter Publikumsansprache lebendig. Eine Band, die man kaum nicht gut fotografieren kann.
Musikalisch setzten Royal Sorrow den Abend mit einer klug kuratierten Setlist in Gang, die ihre Stärken hervorragend ausspielte. Dass sie mit 'Release Your Shadow' starteten – vermutlich ihrem eingängigsten Stück überhaupt – war ein kleines, aber cleveres Statement: sofort Atmosphäre, sofort Melodie, sofort Publikum auf Betriebstemperatur.
'Evergreen' knüpfte daran an und zeigte die typische Royal-Sorrow-Signatur aus Härte, Harmonie und einem überraschend eleganten Flow.
'Bloodflower' brachte anschließend die düster-groovende Kante ins Set – tragisch, wuchtig, beinahe gefährlich –, bevor 'Give In' wieder melodischer und pop-sensibler wurde.
Spätestens mit 'Metrograve' war der Club endgültig wach; jener Tesseract-Voyager-Hybrid, der ihnen überhaupt erst breitere Aufmerksamkeit eingebracht hat, zündete auch in Esch ohne jede Verzögerung.
Das abschließende 'Innerdeeps' rundete den Auftritt ab: kompaktes Songwriting, kluge Dynamikwechsel, ein Hauch Elektronik – und genau der richtige Schlussakkord für eine Band, die sich zwar noch im Aufbau befindet, aber selbstbewusst genug spielt, als wäre sie längst da.
Auffällig war, was nicht gespielt wurde: Auf das so eingängige 'Samsara' wurde diesmal verzichtet – eine Entscheidung, die überrascht, aber gleichzeitig zeigt, dass Royal Sorrow mehr sein wollen als die Summe ihrer offensichtlichen Hooks.
Natürlich fehlt es ihnen – noch – an den wirklich ikonischen Stücken, die Wheel oder Soen live mühelos aus dem Ärmel schütteln. Aber diese Tour mit Leprous ist eine echte Bewährungsprobe, und nach diesem Auftritt kann man nur sagen: Bestanden.
Besetzung:
• Markus Hentunen - Vocals, Guitars
• Eero Maijala - Bass
• Janne Mieskonen - Drums
• Tony Olsén – Gitarre
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Gåte
Nach Royal Sorrow stand mit Gåte erneut eine jener Bands auf dem Programm, bei denen man sich fragt, welche geheime Freude Leprous eigentlich daran haben, ihr Publikum vorab ein wenig aus der Komfortzone zu locken. Schon vor ein paar Jahren hatten sie mit Kalandra eine Truppe dabei, die das Prog-Publikum irritiert zwischen Faszination und Stirnrunzeln zurückließ. Dieses Mal also norwegischer Folk Rock, und zwar jener Sorte, die nicht darum bittet, verstanden zu werden – sondern einfach passiert.
Der Name Gåte kommt dir bekannt vor? Dann hast du dich soeben unabsichtlich als ESC-Enthusiast geoutet. Denn tatsächlich stand die Band im letzten Jahr für Norwegen im Grand Final des Eurovision Song Contest auf der Bühne – und belegte dort mit ihrem Song 'Ulveham' einen eher undankbaren 25. Platz, was vermutlich mehr über den ESC als über Gåte aussagt.
In der Rockhal jedenfalls wirkte davon rein gar nichts nach. Hier in Esch wurden sie nicht mit dem weltmüden Achselzucken eines überfüllten Popzirkus empfangen, sondern mit neugieriger Offenheit – und im Verlauf des Sets sogar mit einer spürbaren Begeisterung, die man nicht einmal bei jedem Headliner sieht.
Das lag zu einem Großteil an Gunnhild Sundli, die auf der Bühne auftrat wie eine Mischung aus nordischer Priesterin, Performancekünstlerin und Folk-Frontfrau. Ihre Präsenz war so unmittelbar, dass man den Raum kurz vergaß. Mal tänzelnd, mal wild, mal ganz still in sich versunken – und dabei immer vollkommen glaubwürdig in diesem musikalischen Kosmos, der irgendwo zwischen Sage, Ritual und Rockkonzert liegt.
Der zweite Faktor war die Nyckelharpa, jenes in Rockkreisen immer noch exotische Streichinstrument, das gleichzeitig singt, schnarrt und schwebt. Ihr Klang gab dem Set diese archaisch-offene Weite, die sofort ins Hirn und in die Knie geht. Es war Musik, die traditionelle Melodik nicht nostalgisch zitiert, sondern lebendig macht – und dem Publikum eine neue Klangfarbe servierte, ohne Rücksicht darauf, ob man dafür die richtigen Schubladen parat hat.
Das Ergebnis: ein intensives und kurzweiliges Erlebnis, das die Rockhal spürbar in Bewegung versetzte. Manche wirkten überrascht, manche irritiert, viele begeistert – und nicht wenige schienen für den Moment in eine andere Welt gezogen. Reaktionen, wie man sie bei einem Vorprogramm nicht oft sieht und bei einem Headliner auch nicht immer bekommt.
Gåte waren an diesem Abend das, was ein Support-Act idealerweise sein sollte:
ein Störfaktor im besten Sinne – einer, der Türen öffnet, Erwartungen zerlegt und den Abend größer macht, als er ohne sie gewesen wäre.
Besetzung:
• Gunnhild Sundli - Gesang, Gitarre
• Magnus Børmark - Gitarre
• Jon Even Schärer - Schlagzeug
• Mats Paulsen - Bass
• John Stenersen - Nyckelharpa
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Leprous
Leprous. Was soll ich noch sagen? Ich bin Fan, und zwar einer von denen, die man nicht mehr überzeugen muss – weder von "Tall Poppy Syndrome" noch von "Atonement". Es gibt nur sehr wenige Bands, deren komplette Entwicklung ich so mitgehen konnte wie die der Norweger. Und genau deshalb stehe ich nun – ja, wieder – bei einem Leprous-Konzert. Nicht, weil es das Pflichtprogramm eines Prog-Schreiberlings wäre, sondern weil kein Leprous-Abend jemals wie der andere ist. Das gilt für die großen Konzeptabende ebenso wie für die Clubshows zwischendurch. Und es galt auch in Esch.
Wer sich im Vorfeld die Setlists dieser Tour angesehen hatte, wusste: Einiges war gesetzt, vieles nicht. Und genau das machte den Reiz aus. Es gab Stücke aus fast allen Phasen der Bandgeschichte, ein paar sichere Eckpfeiler aus dem aktuellen Album – und dazwischen Joker, die man so nicht unbedingt erwarten durfte.
Der Auftakt kam allerdings wenig überraschend: Das quasi in Stein gemeißelte 'Silently Walking Alone' vom neuen Album eröffnete den Abend mit jener Mischung aus Avantgarde-Spätphase und der explosiven Progressive-Energie der frühen Jahre. Ein Stück, das diese Band nahezu perfekt zusammenfasst. Danach wurde die Energieschraube sofort fester gezogen – und zwar mit einem Malina-Doppelpack: 'Illuminate' gefolgt vom absolut überraschenden 'Bonneville'. Ein starkes Statement, und eines, das von der Bühnenseite ebenso kraftvoll kam wie aus dem nun endgültig aufgewachten Publikum.
Doch Leprous wären nicht Leprous, wenn sie nicht genau dann einen eleganten Haken schlagen würden. Und so folgte 'The Cloak', das von den Fans gefeiert wurde wie ein lange vermisstes Relikt. Wer mit den musikalischen Entwicklungen der letzten Jahre fremdelte, hatte spätestens hier sein Glück gefunden. Und alle anderen auch.
Mit 'Below' wechselten Leprous dann erstmals in ihr Avantgarde-Gewand, dieses schimmernde Zwischenreich aus fragilem Minimalismus und emotionaler Explosion. Doch der eigentliche Überraschungsmoment sollte erst kommen.
Denn Leprous hatten während ihrer letzten Nordamerika-Tour an einer Show teilgenommen, die ihnen die Aufgabe stellte, einen ihnen vorgegebenen Song zu covern – ohne vorher zu wissen, worum es sich handelte. Und so landete 'Take On Me' von A-ha bei einer norwegischen Band, die wohl nie im Leben damit gerechnet hätte, sich diesem allgegenwärtigen Ohrwurm zu stellen. Was daraus wurde, ist ein Cover, das so typisch untypisch Leprous ist, dass man es kaum beschreiben kann – man muss es hören.
Und an diesem Abend durfte man es hören.
Das Luxemburger Publikum reagierte darauf schlicht: Es flippte aus.
Komplett.
Und blieb in diesem Zustand für den Rest des Abends.
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'The Price' setzte genau auf dieser Stimmung auf und verstärkte sie noch – ein Novum in der Rockhal, zumindest für mich, seit ich dort regelmäßig Konzerte besuche. Es war einer dieser Momente, in denen man spürte: Diese Band hat die Kontrolle über den Raum, über die Dynamik, über die komplette Atmosphäre.
Es folgte ein intelligentes Hin und Her zwischen alt und neu. 'Like A Sunken Ship' und 'Nighttime Disguise', bei dem Einar Solberg sein stimmliches Gesamtarsenal auspackte, trafen auf die Congregation-Veteranen 'Rewind' und 'Slave'. Danach wurde das Tempo noch einmal fein balanciert: 'Alleviate', das fragil-melancholische 'Castaway Angels' – und dann als hochenergetischer Schlussakkord des Hauptsets ein gewohnt entfesseltes 'From The Flame'.
Und dann als Zugabe das seit dem Erscheinen des neuen Albums etablierte Duo: 'Atonement' gefolgt vom Schluss-Part von ,'The Sky Is Red' : Emotional aufgeladen, druckvoll, aber auch verletzlich. Jeder Ton, jeder Break wirkte wie ein finales Statement, das noch einmal alles bündelte, was diesen Abend ausmachte.
Nach knapp zwei Stunden stand man da, zwischen Schweiß, Lächeln und Rest-Adrenalin, und wusste: Das war ein runder Abend. Ein sehr runder.
Ich verließ die Rockhal auf einem musikalischen High, das nur eine dieser Bands erzeugen kann, die viel zu oft unterwegs sind – und doch nie an Intensität verlieren.
Besetzung:
• Einar Solberg
• Tor Oddmund Suhrke
• Robin Ognedal
• Baard Kolstad
• Simen Børven
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Veranstalter & Venue: Rockhal












































