CD Kritik Progressive Newsletter Nr.36 (07/2001)
Radiohead - Amnesiac
(43:57, EMI, 2001)
Musikkritiker, gerade jene der etablierten Presse, jubeln gerne Bands in den Himmel, um sie dann, wenn sie ihren Zenit offenkundig längst überschritten haben, einfach für the next big thing fallen zu lassen. Spätestens nach ihrem letzten Album "Kid A" halten also Radiohead diese zweifelhafte Pole Position inne. Erinnert sich noch jemand an die Garde der langweiligen Brit-Pop Schnarchbands Blur, Oasis, Pulp? Wie lange manchmal die großen Kollegen brauchen, um zu bemerken, dass aufgeblasene PR-gehypte Bands auch nur - mehr schlecht als recht - mit Wasser kochen... und dann auch nur zumeist einen faden Aufguss alter Erfolgsgeschichten. (Immerhin nicht halb so lange wie notorische Progheads an ihren alten, ausgebrannten Idolen...) Aber huch! Ich schweife ab... wo war ich? Ach ja - bei des Kritikers (derzeit) liebstes Kind Radiohead. Da ist ja den Herren Kollegen ausnahmsweise wirklich mal ein guter Wurf gelungen, denn wenn es eine neue Band der letzten Jahre verdient hat, beachtet zu werden und sogar mit dem Etikett "Musik des neuen Jahrhunderts" behaftet zu werden, dann sind es genau diese. "Kid A", dieses verschrobene, introvertierte, schwer zugängliche, elegische und v.a. herrlich unkommerzielle Album, dass es wagte, keine einzige Single abzuwerfen, ist in der Tat ein Meilenstein in der Rockgeschichte. Schnell machte da der Begriff (die Schublade) vom Postpop, vom Pop nach dem Pop also, die Rede. Was für ein sinnentleerter und völlig unzutreffender Begriff, denn Radiohead ist alles andere als ein legitimer Nachfolger der Popmusik, Gott bewahre! Keine Ahnung, worauf sich die Jungs beziehen - zumindest ist das ihrem Meisterwerk "Kid A" und auch nicht dem neuen Husarenstück "Amnesiac" anzuhören, vermutlich irgendwelche abgespacte, zugedröhnte Musik der 70er, vielleicht eine Mischung aus Krautrock, Pink Floyd (als sie noch Drogen nahmen, anstatt Stadionkonzerte zu geben) und elektronische Musik, aber auf keinen Fall POPmusik, nichts was mit Abba, Stock-Atkin-Waterman, den Spice Girls oder (Himmel hilf!) Britney Spears zu tun hat. Radiohead sind in erster Linie Radiohead, ihre Einflüsse sind völlig irrelevant, denn sie sind längst aufgelöst in einem eigenen Klangkosmos. Aber wie klingt "Amnesiac", jenes Album, das nur aus den übriggebliebenen, "vergessenen" Sessions zu "Kid A" entstanden ist (deswegen eben Amnesiac)? Bestimmt mehr als clevere Resteverwertung, so viel schon einmal vorab - aus den Sessions entstand ein eigenständiges Album, nicht nur "Kid B" (denn das wäre die minderwertige Kopie der meisterlichen Vorlage). "Amnesiac" ist facettenreicher, aber auch stilistisch gebrochener als der Vorgänger. Derweil "Kid A" wie aus einem Guss daherkam, ist "Amnesiac" ein Album mit Ecken und Kanten, präsentiert (wieder) mehr Songs (und weniger Klangcollagen als "Kid A"), etwa die hypnotisch- schwebende Single "Pyramid song" oder das paranoid-neurotisch wirkende "Knives out". Mehr noch, nervös elektronisches wie der Opener "Packt like sardines in a crushd tin box" (jaja, die Schreibweise stimmt so); mehr noch, minimalistische (Sound-) Experimente wie bei "Hunting bears"; mehr noch, depressive Begräbnismusik (inklusive einer New Orleans Marching Band) wie auf "Life in a glass house". Propagierte "Kid A" die musikalische Einheit, die die einzelnen Kompositionen ineinander verwob, so ist "Amnesiac" ein vielschichtiges Kaleidoskop - der entgegengesetzte Ansatz zu "Kid A" also. Wer den Status Quo dieser sich so rasend entwickelnden Band begreifen will, der wird auf beide Alben nicht verzichten können, denn nur zusammen ergeben sie ein umfassendes Bild Radioheads. Somit ist es auch müßig zu diskutieren, welches der beiden Alben besser ist, hier geht es nicht um zwei isoliert zu betrachtende Einheiten, hier sind zwei künstlerisch verschiedene Konzepte - mag der Hörer ganz persönlich entscheiden, welches er vorzieht. Ich bin sicher, dass bei umgekehrter Veröffentlichung "Amnesiac" ähnlich starke Wirkung auf Hörer (und Kritiker) hinterlassen hätte. Fest steht, dass mit Radiohead weiterhin zu rechnen ist. "Amnesiac" ist für mich persönlich das bisher überzeugendste Album des Jahres.
Sal Pichireddu
© Progressive Newsletter 2001