CD Kritik Progressive Newsletter Nr.33 (12/2000)

Radiohead - Kid A
(49:59, EMI, 2000)

Drei lange Jahre hat man auf den Nachfolger von "OK Computer" warten müssen, doch das Warten hat jetzt ein Ende. Die Erwartungshaltung war dermaßen hoch, dass "Kid A" sogar in den US Albumcharts gleich auf der Pole Position einstieg. Jedoch werden sich viele wahrscheinlich sehr schwer mit dieser Platte tun, denn von der Retro Ausrichtung des Vorgängers ist nicht viel geblieben, radiotaugliches Material im Stil von "Karma police" oder "Paranoid android" sucht man auf "Kid A" vergeblich. Dieses Album polarisiert. Entweder man taucht sehr tief in das Klangerlebnis aus Minimalistik, Electronica, Alternative Rock und fast schon avantgardistischen Rockexperimenten ein oder die Musik geht an einem völlig emotionslos vorbei und "Kid A" bekommt den Stempel "gepflegte Langeweile einiger britischer Knallköpfe" verpasst. Radiohead haben sich mit "Kid A" sehr weit aus dem Fenster gelehnt und da ich zur ersten Fraktion gehöre, ist ihnen subjektiv betrachtet über weite Strecken ein wahres Meisterwerk, ein Kleinod moderner Rockmusik gelungen. Mit dem, was landläufig unter Prog läuft, hat es zwar nicht sehr viel zu tun, doch die Neuerschaffung von vielen innovativen Klangeindrücken ist im wahrsten Sinne des Wortes progressiv. Sei es nun der zerbrechlich Opener "Everything in its right place", welches mit seinen Schlussklängen unheimlich an Kraftwerks "Autobahn" erinnert, das einlullende, vorsichhinkriechende "In limbo" oder der von technisch verfremdeten Gesang durchsetzte Titelsong, der nach Musik aus einer fremden Welt klingt. Bei "The national anthem" gibt es neben einem treibenden Groove, ein recht experimentierfreudige Brass Section - das Lied rockt, bewegt sich aber klanglich in freie Gefilde. Für die Fans der früheren Radiohead gibt es immerhin mit der wunderschönen melancholischen Ballade "How to disappear completely", einen Song, der einem wirklich die Tränen in die Augen treibt und versöhnt. Überhaupt ist es erstaunlich, dass die Gitarre auf "Kid A" teils sehr in den Hintergrund gedrängt wurde und oft mehr für Klangexperimente genutzt wird. Es sind vor allem elektronische Sounds, die das Album sehr sphärisch dominieren und ihm so einen andersartigen Touch verleihen. Erinnerungen an das letzte Björk Album "Homogenic" werden hier und da wach. Andererseits führt dies bei "Treefingers" sogar dazu, dass man hier nur weitausladende Soundscapes in Anlehnung an Robert Fripp vernimmt. Immerhin ist der gequälte Gesangsstil geblieben, so dass nicht alle Markenzeichen von Radiohead dem Fortschritt zum Opfer gefallen sind. "Kid A" ist kein Album, welches einem auf Anhieb gefällt, man muss es wirklich sehr oft anhören, um mehr in seine traurig-machenden Tiefen vorzudringen, die Essenz der Kompositionen zu erforschen. Ein mutiger Schritt, der Hoffnung macht, dass auch in der kommerziellen Plattenindustrie vielleicht doch noch einige innovative Querköpfe überlebt haben, die auch zukünftig andersartiger Musik wieder eine Chance geben.

Kristian Selm



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