AYREON – Transitus

(38:52/41:50, 2-CD, 2-LP, Download, Mascot Label Group/Rough Trade)
AYREON - Transitus (MLG/Rough Trade, 25.9.20)Arjen Lucassen liefert ganz grundsätzlich mit Ayreon IMMER exzellente, qualitativ überragende Arbeit ab. Punkt. Der große Überraschungseffekt blieb aber nach seinem großartigen, grenzensprengenden Soloalbum “Lost In The New Real” zumeist aus: man wußte, was zu erwarten war und bekam genau das auch. Dieser Zustand soll sich nun mit dem neuen Album “Transitus” wieder ändern. Über drei Jahre hat Arjen sich diesmal Zeit gelassen – und liefert uns mit seinem neuen Opus ein waschechtes Musical.

“Transitus” orientiert sich an frühen, auch für Rock-/Prog-Fans schamfrei goutierbaren Andrew-Lloyd-Webber-Klassikern wie “Jesus Christ Superstar” oder auch Rick Wakemans orchestraler Extravaganz “Journey To The Centre Of The Earth”, bringt aber fraglos genug Trademarks mit, die der geneigte Fan mit dem Namen Ayreon verbindet. Zuallervorderst wäre da natürlich die deutlich härtere Gitarrenarbeit – “Transitus” rockt, und nicht zu wenig. Was hingegen außen vor bleibt, sind die auf “The Source” und vor allem “The Theory Of Everything” noch reichlich enthaltenen instrumentalen Abfahrten – wie erwähnt, “Transitus” rockt, es progmetalt nicht. Geblieben sind erfreulicherweise die großen Hooks, die uns Arjen bereits seit dem zweiten Vengeance-Album kredenzt und die “Transitus” einmal mehr höchst angenehm in die Gehörgänge gleiten lässt. Ja, und puckernde Alte-Schule-Sequencer, floydige Soundscapes, Querflöten und ein paar textliche Referenzen ans Gesamtwerk gibt’s natürlich auch, obwohl “Transitus” als Story vordergründig nichts mit ebenjenem Gesamtwerk zu tun hat. Arjen hat uns diesmal nämlich eine Geister- respektive Liebesgeschichte kredenzt, die im Jahr 1884 spielt. Das Clevere an der textlichen Umsetzung der Handlung ist, das “Transitus” es schafft, damit durchweg höchst aktuelle Themen anzusprechen. Rassismus, Klassendenken, mentale Vorverurteilung und Engstirnigkeit haben gerade 2020 eine unangenehme Renaissance, und ich applaudiere jedem Künstler, der sich klar auf der Seite des gesunden Menschenverstandes positioniert – vor allem, wenn es wie in diesem Falle ohne Polemik und erhobenen Zeigefinger passiert, sondern stattdessen einfach als “matter of fact” Teil des Ganzen ist. Petje af, meneer Lucassen!

Neben den “üblichen Verdächtigen” wie Tommy Karevik, Michael Mills, Simone Simons oder Marcela Bovio hat Arjen auch an der Gesangsfront eine Reihe neuer Mitstreiter angekarrt. So übernimmt Cammie Gilbert von Oceans Of Slumber neben Karevik die weibliche Hauptrolle, auch Ex-Arena-Fronter Paul Manzi und Amanda Somerville sind neu im Team. Die beeindruckendsten Debütanten sind aber fraglos Threshold-Drummer Johanne James, der mit einer enorm starken, klassischen Rock’n’Roll-Stimme zwischen Doug Pinnick und Dan Reed überrascht und – Dee Snider. Die Twisted-Sister-Rampensau stiehlt in seinem fünfminütigen Auftritt ziemlich die Show und setzt auf dem eingängigen Rocker ‘Get Out! Now!’ definitiv einen Albumhöhepunkt. Doch auch die vertrauten Immer-dabei-Kandidaten dürfen diesmal die eine oder andere Überraschung präsentieren und andere Facetten ihres Könnens zeigen. Allen voran Simone Simons, die als sarkastischer Todesengel gleichermaßen für Gänsehaut wie auch für eine gehörige Portion Humor sorgt. Wie in Musicals so üblich, ist es relativ schwer, einzelne Songs hervorzuheben: es steht die Story im Vordergrund, manche musikalische Themen werden nur sekundenlang wieder aufgegriffen und miteinander verwoben. Dass das Album trotzdem zu den eingängigsten Werken in Arjens Karriere zählt, spricht einmal mehr für den Komponisten Lucassen. Nichts wirkt hier wie Stückwerk oder anstrengend, “Transitus” ist perfektes Prog-Hardrock-Musical-Entertainment und auch aufgrund seiner Stringenz ein klares Highlight der gesamten Ayreon-Discografie.

Den größten Geniestreich hat Arjen derweil in der Verpflichtung des britischen Nationalheiligtums Tom Baker gelandet. In den Siebzigern hat Baker als der exzentrischste und charismatischste aller Darsteller des Namensgebers in “Doctor Who” seine bis heute sichtbaren Spuren hinterlassen. Genau dieses mächtige larger-than-life-Timbre mit dem unüberhörbaren Augenzwinkern hält “Transitus” als Geschichte zusammen und bewahrt die Sache davor, sich zu ernst zu nehmen. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil das Album naturgemäß eine ganze Menge Broadway-Pathos enthält, das schnell süßlich oder, auch in der Hand eines weniger talentierten Komponisten, ermüdend wirken könnte. Als zusätzliches Tribut an Baker tauchen auch auf dem ganzen Album immer wieder ans Titelthema von “Doctor Who” erinnernde Bass-Sequencer auf – ganz klar, Tom Baker passt zu “Transitus” wie… na, Ihr wisst schon.

Ein schlechtes Album hat Arjen Lucassen zwar noch nie abgeliefert, aber selbst in der hochklassigen Geschichte des Sympathikus finden sich nicht viele Alben, die mit “Transitus” mithalten können. Man hört der Scheibe zu jeder Sekunde an, dass es sich um eine absolute Herzensangelegenheit handelt, die Begeisterung und der Enthusiasmus aller Beteiligten springt förmlich auf den Hörer über. Kurz: zusammen mit “Into The Electric Castle” und “Lost In The New Real” wahrscheinlich das Feisteste, was Arjen Anthony Lucassen bislang abgeliefert hat. Niiiice
Bewertung: 14/15 Punkten (KR 14, KS 11)

PS: Ein außerordentlich erquickliches Interview mit Arjen zum Thema “Transitus” (und mehr) findet Ihr übrigens hier!

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Wikipedia (Ayreon)
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