AYREON – Arjen Lucassen erzählt alles zu Transitus (und mehr…)

Arjen Lucassen, Foto: Lori Linstruth

Ein neues Album von Arjen Lucassen ist immer ein Grund zur Freude. Schon seit seiner Zeit bei den Hardrockern Vengeance steht sein Name stets für qualitativ extrem hochwertige Musik, egal ob mit seinen ausladenden Prog-Metal-Opern unterm Bandnamen Ayreon, eingängigem Melodic Metal mit Star One oder songorientierten Soloalben wie “Lost In The New Real”. Mit dem aktuellen Ayreon-Projekt “Transitus” hat Arjen nun ein wenig seine Komfortzone verlassen und sich komplett in die Welt des Musicals begeben – aber freilich nicht ohne Prog-Elemente, metallische Riffs und Allstar-Besetzung aus dem Besten der beiden Welten. Prog-Betreuer Sascha quetschte den wie immer sehr gesprächigen und bodenständigen Arjen zum neuen Album – und ein paar weiteren Themen – für Euch aus…

Betreutes Proggen: Hallo Arjen! Wie geht’s Dir? Speziell in Bezug auf den Virus und seine Folgen?

Arjen: Ach, weißt Du, ich bin solch ein unglaublichlicher Einsiedler, ich lebe schon seit dreißig Jahren im Lockdown, ich hab’ enorm viel Übung, haha! Aber ernsthaft, für mich ändert sich wirklich nicht viel – ich bin fast immer zuhause, ich habe kein Sozialleben, keine Kinder, keinen Job… einmal die Woche gehe ich einkaufen, und da sind wir natürlich ein wenig vorsichtiger, aber abgesehen davon hat sich nicht viel verändert. Ich habe mir meine eigene, kleine Blase erschaffen und bin sehr, sehr glücklich in ihr!

Ein weiterer Grund zum Glücklichsein ist auch das neue Ayreon-Album “Transitus” – ich nehm’s mal gleich vorweg, ich find’s großartig, eine Deiner besten Arbeiten meiner Meinung nach, wenn ich also ein wenig “fanboy”, musst Du mir verzeihen…

Wow, Danke! Nur zu, Fanboy ruhig! Ich bin nämlich im Moment in so einer unsicheren Phase! Es ist eigentlich immer dasselbe, wenn ich ein Album fertiggestellt habe, bin ich happy und zufrieden, aber dann musst Du drei Monate warten, bis es veröffentlicht wird. Und da trifft mich dann die Unsicherheit: oh, mein Gott! Du liest dann die ersten Kommentare auf YouTube, und auch wenn die meisten positiv sind, sind doch immer welche dabei, die negativ sind – und das sind die, die wehtun, besonders, wenn ich auch noch der gleichen Meinung bin, haha! Und gerade, weil es so anders ist als andere Ayreon-Alben, bin ich bei diesem Album besonders unsicher. Es freut mich also, das von Dir zu hören, haha!

»Also, die ersten zwei, vielleicht sogar drei Jahre war all das als Filmprojekt geplant, nicht als Ayreon-Album«

Es sind ja diesmal auch dreieinhalb Jahre vergangen seit dem “The Source”-Album – für Deine Verhältnisse sehr lang. Hat die Arbeit an “Transitus” insgesamt so lange gedauert oder gab es viel Ablenkung?

Eine Mischung aus beidem, würde ich sagen. Einmal waren da ja die Liveshows und die folgenden DVDs, der Mix und das Editieren brauchen immer lange, gerade auch die 5.1-Mixe, und das “Electric Castle” hab ich in dieser Zeit ja auch noch neu abgemischt. Trotzdem ist dies das Ayreon-Album, an dem ich wohl am Längsten gearbeitet habe. Ich sage “Ayreon-Album”, aber in den ersten zwei Jahren war es ehrlicherweise noch gar nicht als Ayreon-Album geplant. Die Geschichte begann direkt nach “The Source” aus einem meiner größten Träume überhaupt, nämlich einen Rock-Musicalfilm in der Art von “Jesus Christ Superstar” oder “Tommy” zu machen. Das hat schon lange niemand mehr gewagt, darum sagte ich mir, probier’s einfach! Also, die ersten zwei, vielleicht sogar drei Jahre war all das als Filmprojekt geplant, nicht als Ayreon-Album. Und dann ging natürlich die ganze Corona-Sache los, und Du kannst Dir vorstellen, was dann passierte. Filme kosten Millionen – selbst ein Low-Budget-Film kostet locker fünf Millionen, und dafür wirst Du vermutlich nur ausgelacht, haha. Ein großer Film verschlingt eben fünfzig, hundert oder gar zweihundert Millionen, und es ist nicht einfach, Geld dafür zusammenzubringen. Dazu brauchst Du Investitionen aus allen erdenklichen Quellen, was im Moment noch schwerer ist. Als Zweites ist es momentan generell problematisch, überhaupt einen Film zu drehen, gerade im Falle dieser Story, wo es als Beispiel die große Szene gibt, wo versucht wird, das brennende Haus zu löschen. Ich hatte also all dieses Material und wollte ehrlich gesagt nicht ein paar Jahre warten, bis dieses Corona-Ding wieder vorbei ist, wann auch immer das sein wird! Ich ging also zu meiner Plattenfirma und spielte ihnen das Album vor. Sie sagten zwar, dass es schon ziemlich anders als das letzte Ayreon-Album klang, aber immer noch genug nach Ayreon, um es auch als solches zu veröffentlichen. Und letztendlich gab ich ihnen sogar recht. Ich meine, es hat ja trotzdem alle Ayreon-Trademarks, die vielen Sänger, die vielen stilistischen Schlenker, die durchgehende Story – ich habe dann noch ein paar Kleinigkeiten geändert, und dann war ich auch einverstanden, ein Ayreon-Album daraus zu machen.

Damit geht meine nächste Frage mal dahin, denn ich wollte Dich eigentlich fragen, ob “Transitus” nicht einen ziemlichen guten Film abgäbe!

Ja, eine gute Frage wäre das gewesen, haha! Für jede Note des Albums habe ich genau im Kopf, was im Film hätte passieren sollen. Das war natürlich auch eine ganz andere Art des Schreibens: wo ich ansonsten einen Fünf-Minuten-Instrumentalpart und viele Soli gehabt hätte, konnte ich das diesmal natürlich nicht machen, weil ansonsten der Film langweilig werden würde…

Artwork: Felix Vega

Stattdessen gibt’s ja immerhin einen ziemlich feinen Comic zum Album. Wie bist Du an den noch relativ unbekannter Zeichner Felix Vega gekommen?

Weißt Du, ich werde sehr verwöhnt. Ich kann mit den besten Sängern der Welt und den besten Musikern überhaupt arbeiten, und da wollte ich natürlich auch den besten Zeichner für den Comic, haha! Ich habe also überall im Internet gesucht, unzählige Leute befragt, darunter auch den Comic-Zeichner, der mein Soloalbum “Lost In The New Real” illustriert hat (Claudio Bergamin, Anm. d. Red). Und das Erste, was er zu mir sagte, war: “Ich werde nie mehr mit Dir zusammenarbeiten!”, haha! Er kennt mich eben und weiß, was für ein kleinlicher Perfektionist ich bin, und er hat beim letzten Mal ein Jahr gebraucht, obwohl nur ein Monat veranschlagt war! Aber, wir sind gute Freunde – trotzdem! – und er hat mir einen Typen von diesem Comic-Vertrieb in Chile empfohlen, weil der eben ‘ne Menge Künstler kennt. Ich habe den also kontaktiert, und er hat mir gut zehn Portfolios seiner Künstler geschickt. Beim Durchschauen war’s aber eher so “meh” und “nee”, bis ich zu Nummer fünf oder so kam, Felix eben, und ich sagte sofort, mein Gott, das ist genau der Richtige! Mir war natürlich auch noch wichtig, dass er auch die Musik mögen würde. Denn wir haben fast ein Jahr an diesem Ding gearbeitet, das bedeutet rund zwei Wochen an jeder Seite, Entwürfe, Anleitungen hin- und herschicken… wenn man solange zusammenarbeitet, muss die Arbeitsbeziehung einfach stimmen. Und man muss sich auch gegenseitig inspirieren können, so schickte ich ihm zum Beispiel neue Musik, worauf er sofort sagte, “klar, ich sehe es schon vor mir!” und er schickte mir eine Zeichnung, bei der ich sofort dachte “ja, das wäre auch sehr cool!” – da hat so wunderbar funktioniert, wirklich wunderbar. Ein supernetter Kerl, und er konnte sogar mit meinem Perfektionismus umgehen, haha! Wenn Du das Earbook siehst, dort haben wir in der zweiten Hälfte all die Entwürfe gesammelt, zusammen mit meinen Anweisungen, meinem Kontroll-Gefreake, haha. Aber, ja, in Chile ist Felix auch schon sehr bekannt und hat einige höchst erfolgreiche Graphic Novels veröffentlicht.

Generell sind ja einige neue Gesichter auf “Transitus” gelandet, nicht nur die Sänger, sondern auch ein neuer Drummer (Juan Van Emmerloot). Wenn ich nun mal Sherlock Holmes spiele: ist die Tatsache, dass “Transitus” nicht als Ayreon-Album geplant war, der Grund für die Abwesenheit von Ed Warby, der seit “Into The Electric Catle” auf allen Ayreon-Alben spielte?

Ja! Bei einem normalen Ayreon-Album wäre das auch überhaupt keine Frage gewesen. Aber weil ich einen Film plante, brauchte ich eben auch jemanden, der stilistisch noch ein wenig breiter aufgestellt ist. Es sollte also schon jemand sein, der das Metal-Element verstand und fühlen konnte, aber auch andere Elemente wie Jazz und Funk einbringen konnte. Das war also von Anfang an der Plan, und Ed hat mir auch tatsächlich dabei geholfen, genau so jemanden zu finden. Ein echter Scheiß-Moment war es aber, Ed sagen zu müssen, dass das Album nun doch “ein Ayreon” werden würde. Das war schwierig für Ed und hat ihn auch verletzt, weil er eben auch immer sehr stolz darauf ist, Teil von Ayreon zu sein – und diesmal ist er das leider nicht.

Ihr seid aber immer noch befreundet, hoffe ich?

(nachdrücklich) Ja, ja, natürlich! Weißt Du, es wäre für mich auch seltsam gewesen, wenn ihn das überhaupt nicht gejuckt hätte. Ich weiß eben, dass es ihm viel bedeutet, und ich mag ihn auch immens.

Dadurch, dass “Transitus” wie ein echtes Musical strukturiert ist, würde es sich doch auch für eine Theaterfassung anbieten, oder?

(zögerlich) Ich weiß nicht, ob… ja, vermutlich schon, aber weißt Du was? Da habe ich bisher noch gar nicht wirklich drüber nachgedacht. Natürlich wäre das großartig, erst das Album, dann der Film, dann die Bühnenproduktion. So lief es ja auch mit “Jesus Christ Superstar”, Tommy” und sogar “The Wall”, das ja nach dem Film auch mehrfach live aufgeführt wurde. Ja, das würde mir schon gefallen, aber ich kenne mich in dieser Theaterwelt nun überhaupt nicht aus, und das heißt, ich müßte die ganze Sache in fremde Hände geben – wie bei einem Film natürlich auch. Ich bin bei Gott kein Regisseur, ich kann die Musik und die Ideen liefern, aber die Durchführung muss natürlich jemand anders machen.

Ist das für einen Perfektionisten nicht ein schwieriger Gedanke?

In dem Fall überhaupt nicht. Das sind Menschen, die viel mehr Ahnung davon haben als ich, also ist das kein Problem. Schwierig wäre es wohl bei der Musik, zum Beispiel mit einem außenstehenden Produzenten zusammenzuarbeiten oder den Mix von jemand anders erledigen zu lassen. Wenn aber irgendein supercooler Regisseur richtig viel ändern wollte, wäre das immer noch okay. Ich würde ihm natürlich gerne bei Veränderungen helfen, auch versuchen, meine Handschrift zu erhalten. Zum Beispiel sollte es keine Disco-Fassung werden, haha, oder ein Reggae-/R’n’B-Hybrid, das wäre nicht so in meinem Sinne, aber… nein, das wäre letztlich okay. Ich habe ja bei der “Theater Equation” auch alles aus der Hand gegeben… aber, stimmt schon, jetzt, wo Du es gesagt hast, wenn ich ehrlich bin, hätte ich am Ende bestimmt ‘ne Menge zu meckern, haha! So war’s ja auch bei Roger Waters und Alan Parker (Regisseur von “The Wall”), die danach auch keine Freunde mehr waren… Ich sage vermutlich jetzt noch, “tu, was Du willst”, aber wenn er das dann tatsächlich macht, komme ich vermutlich: “oh Mist, das ist ja völlig Scheiße!”, haha!

Dee Snider, Foto: Stephanie Cabral

Noch einmal zurück zu den “Neuen”: ich hätte beispielsweise Dee Snider nie auf einem Ayreon-Album erwartet!

Ich weiß! Ich weiß! Und, ehrlich, ich war nie ein Twisted-Sister-Fan, das ist nicht meine Musik. Mir gefielen die Videoclips, Du weißt: “What do you wanna do with your life?”, das war sehr cool! Und ich mochte sein Charisma, auch seine Stimme, meine Musik war’s aber trotzdem nie. Aber für diesen Part, den unausstehlichen Vater mit all seinen Tabus, brauchte ich jemanden, der einen Auftritt hinlegte, dass man den Rest drumherum schlagartig vergisst, jemand mit Charisma und Größe. Ich habe sein letztes Album, “For The Love Of Metal”, gehört und konnte es nicht fassen, der Typ ist 65, und er wird immer noch besser! Bei anderen Sängern geht es ab 50 langsam bergab, ich merke das zum Beispiel auch bei mir selbst, aber, wie auch immer er das macht, bei ihm spürt man rein gar nichts davon! Ich meine, der Song ist ein relativ einfacher, achtzigerlastiger Rocker, und ich dachte mir, dass seine Stimme etwas ganz Besonderes daraus machen würde.

Witzig vor allem, weil Dee jetzt den konservativen Vater spielt, der ja immer das Feindbild von Twisted Sister darstellte!

Haha, ja, genau! Ich hatte ja ein wenig die Befürchtung, dass er genau deswegen sagen würde, “nie im Leben spiele ich so ‘nen Part”! War aber alles umsonst, er ist ja selbst auch Schauspieler und hat auch schon selbst Filme gedreht, er weiß also genau, das es nur ein Charakter ist. Ich konnte trotzdem nicht widerstehen, Tommy (Karevik) die Zeile “how can you be so twisted?” zu ihm singen zu lassen… das musste ich einfach unterbringen, haha!

Simone Simons, Foto: Lori Linstruth

Interessant auch der Part von Simone Simons als sarkastischer Todesengel! Für gewöhnlich hat sie ja dieses kühle Eisprinzessinnen-Image, wobei sie abseits der Bühne eigentlich immer sehr locker und witzig wirkt…

Richtig! Simone ist so ein lustiger, lockerer und netter Mensch, immer, wenn sie hier herkommt, lacht sie unheimlich viel, macht unanständige Witze und hat dieses Zwinkern in den Augen. Bei Epica ist sie eben diese Eisprinzessin, aber ich wollte diese andere Seite von ihr auch einmal zeigen. Ursprünglich gab’s in der Geschichte keinen Todesengel, noch nicht einmal die Zwischenwelt Transitus kam darin vor! Da die Sänger im Filmprojekt auch die Schauspieler sein sollten, wollte ich aber unbedingt Simone dabei haben, denn sie kennt mich gut, sie singt großartig, sie sieht fantastisch aus – und sie mochte den Part auch sehr! Wir wollten eigentlich nur ein Lyric-Video für ‘This Human Equation’ machen, überhaupt nichts filmen, aber ich schrieb ihr eine Nachricht: “Hör’ mal, du musst das natürlich nicht machen, wir können auch ein Lyricvideo machen, aber wäre es nicht cool…” – und sie dachte gar nicht lang nach, sie antwortete sofort! “Auf jeden Fall bin ich dabei, wann und wo?” Und den Spaß, den sie an dem Part hat, sieht man dem Video auch absolut an!

Ein weiterer Geniestreich ist die Verpflichtung von Tom Baker als Erzähler, der den meisten wohl als der vierte und ikonischste Darsteller von Doctor Who bekannt sein dürfte. Wie hast Du Tom an Bord gebracht?

Tom Baker

Es war nicht einfach. Die ganze Filmwelt ist sehr abgeriegelt, es ist sehr schwer, an diese Menschen heranzukommen – und es ist ein teurer Spaß, muss ich sagen. Als ich die Preise sah, dachte ich mir nur, “okay, das sind ganz andere Dimensionen als in der Musikwelt!” Ich hatte also in etwa zehn Schauspieler im Blick, in der Hoffnung, zu wenigstens einem davon wirklich durchzukommen. Über Google fand ich dann aber eine Sprecher-Agentur, hauptsächlich mit mir unbekannten Namen, aber darunter war eben auch Tom Baker – und ich dachte mir, versuch’s doch einfach mal! Es wurde also drei Monate lang verhandelt, bis wir uns auf einen Preis einigen konnten – und erst dann wurde das Projekt Tom überhaupt angeboten. Natürlich, zunächst wollten diese Leute natürlich sicher sein, dass wir seriös sind. Und glücklicherweise, wirklich glücklicherweise liebte er es! “Das ist wie für mich gemacht!” – und, ja, das war es auch! Sobald wir erfuhren, dass er interessiert war, passten wir die Texte an seine Stil an – und ich kenne seine Stil SOOO gut, weil ich in den Siebzigern ein Riesenfan war! Ich hab’ alle seine Folgen von “Doctor Who” gesehen, später auf Betamax und VHS gekauft, danach nochmal auf DVD und BluRay… Und das Coole ist, dass Tom in “Doctor Who” nie geschauspielert hat – er WAR der Doctor. Wirklich! Ich habe ihn ja schließlich kennengelernt, als wir in England waren, um ihn aufzunehmen, und das war einer der besten Tage meines Lebens! Tom hat genau diesen Humor, er ist so unheimlich nett, gebildet und intelligent! Was ich für diesen Part wollte, war ein Geschichtenerzähler, wie ein Großvater, der Kindern eine Geschichte erzählt. Ich wollte, das es dadurch für die Hörer einfacher wird, in der Geschichte zu versinken. Und Tom hat so viel selbst eingebracht – bei “This Human Equation” haben wir drei Takes gemacht, und beim letzten Take kam plötzlich dieses (imitiert Tom) “this human equation… HAHAHAHA, POOR PEOPLE!” – vollkommen spontan und so perfekt!

Er ist ja auch einer dieser ganz großen Stimmen, dieser Larger-Than-Life-Charakter, den man nicht vergisst…

Ganz genau, es gibt nur wenige dieser Stimmen, so wie Patrick Stewart oder Brian Blessed. Aber Tom hat eben auch noch diesen Sinn für Humor. Wenn Patrick Stewart die Rolle gesprochen hätte – und das war tatsächlich auch eine realistische Option, Patrick hätte schon damals beinahe mein Soloalbum (“Lost In The New Real”) gesprochen, wo wir uns zwischen ihm und Rutger Hauer entscheiden mussten – Patrick hätte die Rolle wohl ernster angelegt, mehr Shakespeare. Und ich weiß auch nicht, ob er mit soviel Spaß an die Sache herangegangen wäre. Es hätte für uns also nicht besser laufen können als mit Tom Baker.

»Eine große Veränderung war also auch, dass ich diesmal mit einem Drummer komponiert habe«

Ganz generell bringt “Transitus” aber auch von Deiner Rolle als Komponist her durchaus einige Veränderungen. So finden sich beispielsweise, wie Du schon vorhin erwähnt hast, einige Jazz-Einflüsse und auch Gospel-artige Passagen – ist das für Dich Neuland oder einfach zum ersten mal in dieser Form im Vordergrund? Ich weiß, dass Du ein großer Fan von “Jesus Christ Superstar” bist…

Nun, das wäre mit Ed alles auch so nicht passiert, denn das alles ist überhaupt nicht sein Ding. Eine große Veränderung war also auch, dass ich diesmal mit einem Drummer komponiert habe. Dieser hier hat nämlich sein eigenes Studio, und als ich die ersten Demos – ganz einfache miese MIDI-Piano-Spuren – hatte, ging ich zu ihm. “Was würdest Du hier spielen? Was denkst Du hierüber? Mach’ doch mal was ganz Weirdes, haha!” Ich wollte das Album ja anders haben, ich wollte ja etwas Vielseitiges und Abwechslungsreiches. Er kam also mit schrägen Ideen an und sagte meistens, “ach nee, das können wir doch nicht bringen!”, und meine Antwort war immer “doch! Können wir!” Ich bin offen für alles. Ich bin kein großer Jazz-Fan, speziell nicht von dem freien Zeug, mit Saxophonen, die die ganze Zeit “miiiuuuäääwiii…” machen… ich find’ das einfach schrecklich, haha! Die Idee war also mehr beeinflusst von, wie Du sagtest, zum Beispiel “Jesus Christ Superstar” (singt das Riff von ‘Heaven On Their Minds’), das ist schon etwas jazzig. Ich hab’ das übrigens direkt geklaut, der Song ‘Listen To My Story’ hat ein Riff, das ganz offen darauf basiert, haha! Wenn es also auf ‘ne coole Weise gemacht ist, mag ich diese jazzigen und auch funkige oder bluesige Parts.

Meine erste Assoziation beim Hören des Albums war aber eher Rick Wakemans “Journey To The Centre Of The Earth”, falls Du das kennst, es hat…

(unterbricht) Was denkst Du denn, haha? Oh, Mann, ich träume nachts von diesem Album (singt das “The Journey”-Thema)! Dieses Thema ist so stark, und David Hemmings war so cool auf diesem Album, mit dieser Stimme, die Dich richtig in die Geschichte hineinzieht… das war natürlich ein riesiger, wirklich enormer Einfluss. Genauso “War Of The Worlds” mit Richard Burtons Erzähler – das waren Stimmen, die einfach zum Teil der Musik wurden und nie denken ließen, “hey, da labert irgendsoein Arsch in die Musik ‘rein!” Und das passiert oft genug, es gibt ‘ne Menge Konzeptalben, bei denen irgendeine Stimme loslegt (theatralisch):”und siehe da! das Tor ward geöffnet und der Prinz bestieg sein Ross…” und ich denke, “ach, menno, mach’ schon hin!” Ja, aber wenn’s gut gemacht ist, von jemandem wie Tom Baker oder David Hemmings, dann trägt das noch einmal zur Atmosphäre des Albums bei.

Arjen Lucassen, Foto: Lori Linstruth

Die Erzählstimme wird dann so wichtig wie einer der Sänger.

Stimmt. Ganz genau. Weißt Du, ich suche nie nach Sängern, sondern nach Stimmen. Eine Stimme muss nicht technisch perfekt sein. Wenn Du mal an Jonas Renkse von Katatonia denkst: er ist kein Ronnie James Dio. Aber er hat eine wundervolle Stimme, und das ist es, auf was ich höre. Ich höre also oftmals eine Stimme, und dann frage ich den Besitzer, ob er in mein Studio kommen würde. Ich möchte Stimmen auch oftmals anders verwenden als in den regulären Bands. Ich lege also mehr Wert auf eine Stimme als auf einen Sänger. Ich weiß, das klingt weird, aber ich denke, viele Sänger haben eine enorme Reichweite, exzellente Technik, aber ich mag einfach ihre Stimme nicht! Das passiert mir so oft, Freunde oder Fans empfehlen mir einen Sänger, ich hör’ mir das an, und dann legt er los (imitiert Operngesang) und ich denke: “ja, das ist echt beeindruckend, aber ich mag’s trotzdem nicht!” Ich meine, Dio hatte zum Beispiel alles, er hatte diese Stimme, die mir wirklich gefiel und die Technik. Nimm aber Robert Plant: der hatte null Technik, aber was er alles mit seiner Stimme anstellen konnte, oh! mein! Gott!, das war purer Wahnsinn! Aber da war null Technik dahinter. Oder David Gilmour! Kein Opernsänger, klar, aber er hat diese Wärme, diese Größe in seiner Stimme. Wenn er bei ‘Comfortably Numb’ einsetzt… zuerst hast Du Roger Waters, und da denkst Du (langsam) “ooookaaaay…” – aber er hat natürlich auch jede Menge Feeling in der Stimme. Aber dann kommt David, (singt) “there is no pain, you are receding”… aaaah!

Deshalb waren die beiden auch zusammen immer am Besten, die Feindseligkeit von Waters und die Wärme von Gilmour kombiniert…

Genau! Ich mag die Alben nach Waters immer noch sehr gerne, aber es fehlte dieses Böse, dieses Dunkle. Ich finde, es ist eine gute Sache, wenn man auch Sachen integriert, die einem vordergründig nicht einmal besonders gefallen. “Jesus Christ Superstar” ist da wieder ein gutes Beispiel: man muss erst mal diese “Hosanna, heysanna, sanna, sanna”-Passage absitzen, die echt grausam ist, aber das ist egal, weil es zur Geschichte gehört, und danach kommt dieser großartige Abschnitt! Das macht die Sache etwas abenteuerlicher, denke ich. Gilmour und Waters waren wie Lennon und McCartney. McCartneys Musik wurde zu süßlich, und Lennons Musik wurde zu boshaft, wenn Du dieses ganze Geschreie hörst, uahh… Zusammen war ein Gleichgewicht da.

Wenn wir zurück zu Ayreon gehen: es waren ja für dieses Jahr auch noch ein paar Liveshows geplant, unter Anderem auf der “Night Of The Prog”, die ja aus den bekannten Gründen nicht stattfinden. Gibt es schon Pläne für weitere Shows? Ich weiß ja, dass Du selbst nicht unbedingt ein Fan von Liveauftritten bist…

Nun ja, es war in den letzten Jahren so ein bisschen Tradition, alle zwei Jahre ein Ayreon-Konzert auf die Beine zu stellen. Also wäre logischerweise in 2021 wieder eine Show dran, was auch der Plan war. Und, stimmt schon, ich bin kein Fan davon, live zu spielen, aber Joost (van den Broek) ist diesbezüglich meine Geheimwaffe, haha, weil er das Ganze nämlich immer auf die Beine stellt. Ohne ihn würde nichts dergleichen stattfinden – sollte er also irgendwann sagen:” ich mach’ das nicht mehr”, dann war’s das auch mit Ayreon-Liveshows. Joost ist auch ein wenig hartnäckiger als ich, immer wenn ich ‘rumdruchse und “ach, weiß nicht” sage, kommt von ihm ein “ach was, aber klar, nächstes Jahr, das wird großartig!”. Das Problem ist nur, das so eine Show ein gutes Jahr Planung braucht, und wir müßten also in etwa JETZT gut zwölftausend Tickets dafür verkaufen. Bei “Electric Castle” hatten wir zwölftausend Besucher aus 64 Ländern, und das wird im Moment einfach nicht passieren. Die Situation hier scheint im Moment eher immer schlimmer zu werden, trotzdem ist Joost immer noch positiv und sieht weiterhin das Potenzial, doch etwas hinzukriegen. Wir arbeiten also schon noch daran und denken darüber nach, aber ganz ehrlich: ich denke, das wird nichts. Auch bei der Night Of The Prog war es so, Joost hat unheimlich viel Zeit investiert, während ich ihm immer sagte, “lass es doch, Joost, das wird nicht zustandekommen”. Ja, leider…

Cammie Gilbert, Foto: Lori Linstruth

Was ich auf “Transitus” wie auf den vorangegengenen Ayreon-Alben dennoch etwas vermisse, ist Dein Gesang…

Hm, das war eigentlich gar nicht so wirklich durchgeplant, ich habe immer die Story, die Charaktere und suche eben eine Stimme für sie. Und hier umso mehr, da ich alle Sänger auch als Schauspieler haben wollte und ich ums Verrecken nicht schauspielern kann, haha! “The Source” war ein ziemliches Metal-Album, und ich bin überhaupt kein Metal-Sänger, also… ich singe wirklich gerne, obwohl ich nicht gut darin bin…

Da möchte ich widersprechen…

Danke, haha, es macht mir auch viel Spaß, man muss nicht viel üben, man kann einfach loslegen, die Finger tun nicht weh von irgendwelchen Saiten… Natürlich gab’s da mein Soloalbum “Lost In The New Real”, und auf das bin ich von allen wohl am meisten stolz, denn das bin hundertprozentig ich. Das bin ich, wenn ich überhaupt keine Kompromisse an irgendetwas mache, sondern nur genau das, was ich mag. Ich würde also schon gerne irgendwann noch einmal so ein Soloalbum machen. Aber bei Ayreon ist es auch so: ich habe immer eine endlose Liste an Sängern, die ich gerne auf dem Album hätte und kann nicht einmal die alle unterbringen, obwohl ich das gerne tun würde. Ich würde also nie selbst singen, wenn ich Dee Snider, Michael Mills, Johanne James oder Cammie Gilbert haben kann….

Wo Du gerade das “Lost In The New Real”-Album erwähnst, eines meiner persönlichen Lieblingsalben: ein Teil des Albums besteht aus Coversongs, die allesamt wunderbar uns schlüssig ins Konzept des Albums integriert sind. Und generell hast Du im Laufe Deiner Karriere einige sehr eigenständige und originelle Coversongs aufgenommen. Was reizt Dich an den Songs, die Du coverst?

Nun, zuallererst einmal versuche ich nie, einen Song besser zu machen als das Original – das kann ich nämlich nicht, punktum. Also muss der Song auch zu mir passen, ich muss ihm etwas Neues abgewinnen können. Wenn ich also zum Beispiel ‘Welcome To The Machine’ covere, dann ist das einer meiner absoluten Lieblingsstücke. Und da kam eben der Gedanke, aus diesem elektronischen Song einen Metalsong zu machen. Aber natürlich möchte ich auch immer das ursprüngliche Feeling des Songs beibehalten. Wobei ich mir bei ‘Welcome To The Machine’ sicher bin, dass mich einige Floyd-Fans dafür hassen werden. Aber meist ist es einfach auch so eine Sache von “hey, hör Dir mal diesen Song an, ist der nicht großartig?” Ich habe beispielsweise 1996 ein ganzes Album namens “Strange Hobby” gemacht, das daraus entstand, dass ich die 1960er entdeckte. Und der ganze Sinn dahinter war, den Ayreon-Fans dieses Material näherzubringen, in moderneren, härteren und teilweise punkigen Versionen.

Am Meisten hat mich an diesem Album Deine unheimlich genaue Marc-Bolan-Imitation beeindruckt…

Marc hatte dieses kleine, sehr schnelle Vibrato in der Stimme, das ich mir abgeschaut habe! Ich war ehedem ein Riesenfan von T.Rex, die damals noch eher eine Underground-Sache waren. In Holland kannte man ein paar ihrer Hits wie ‘Hot Love’ oder ‘Get It On’, aber über die Band war so gut wie nichts bekannt. Das “Electric Warrior”-Album war auch das erste Album, das ich mir selbst gekauft habe. Eine lustige Anekdote: als ich für “Electric Castle” Fish traf, kamen wir darauf, dass auch sein erstes Album “Electric Warrior” war! Und für uns beide war das ein ganz enormes Ding: das erste selbst gekaufte Album, das hörst Du natürlich, bis es nicht mehr geht! Es ist also komplett Teil meiner DNA geworden.

Eine Frage hab’ ich noch, die ganz gut zum “Strange Hobby”-Thema passt. Einige Deiner älteren Alben sind nämlich schon seit einer Weile nicht mehr erhältlich, darunter Dein Solodebüt “Pools Of Sorrow, Waves Of Joy” unter dem Namen Anthony und leider auch das zweite Star-One-Album “Victims Of The Modern Age”. Gibt es eine Chance, dass dieses Material wiederveröffentlicht wird?

Oh, das ist schwierig. Bezüglich des Anthony-Albums habe ich den Typen, bei dessen Label das Album erschien, schon mehrfach kontaktiert. Ein wirklich netter Typ, aber er will die Rechte an dem Album nicht verkaufen, obwohl das Label Ray’s Music schon lange nicht mehr existiert. Er sagt, das Album sei sein Baby, und nein, er wolle die Rechte nicht hergeben, obwohl er es selbst ja nicht wiederveröffentlichen kann, weil er kein Label mehr besitzt! Ich habe ihm also den Vorschlag gemacht, dass ich das Album selbst herausbringe, also nicht an eine Firma verkaufe, sondern selbst pressen lasse. Ich habe dreißig oder vierzig Bonustracks aus der Zeit des Albums, Demos von allen Songs, Sachen, die wir nicht verwendet haben, ein paar Covers – darunter ein weiteres T.Rex-Cover und sogar ein Song über Marc Bolan, der es nie auf ein Album geschafft hat! Ja, und diese Idee schien ihm zu gefallen. Wenn ich also ein wenig Zeit dafür habe, bereite ich alles vor, und dann werde ich mit ihm sprechen, wieviel Anteil er von den Einnahmen haben will und so weiter, und dann denke ich, wird das auch funktionieren. Wegen “Victims”… das Album hat sich nicht gut verkauft, obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht verstehe warum. Ich hab’s mir vor ein paar Tagen gerade noch einmal angehört, weil ich so ein wenig an einem neuen Star One plane – Star Three, sozusagen – und mich nicht wiederholen möchte. Und ja, ich mochte es wirklich! Aber, es hat sich nicht besonders verkauft, was wohl auch der Grund ist, warum Inside Out keine Nachpressung gemacht haben. Aber ich bin mir sicher, dass sie, wenn ich das dritte Album herausbringe, die ersten beiden Alben wieder hervorholen werden und irgendetwas damit machen.

Eine Star-One-Fortsetzung klingt schon einmal sehr vielversprechend… Gibt es noch irgendetwas Wichtiges, was ich vergessen habe und was für Dich noch wichtig ist?

Nun, nicht vergessen, aber die Plattenfirma Mascot ist ja gerade dabei, meine Alben chronologisch auf Vinyl zu veröffentlichen. Als nächstes ist da “Universal Migrator” dran… und da das Album das letzte war, dass noch auf herkömmlichem Band aufgenommen war, würde ich es gerne für eine Neuauflage remixen. Auch das ist ein meiner Meinung nach etwas untergegangenes Projekt, jeder redet nur über “Electric Castle” und “Human Equation”, aber das Material dazwischen… Ich denke, ich hätte nicht meine beiden Stilistiken trenne sollen, ein Album für die Prog-Fans, eins für die Metalfans. Ich hätte auch gleich ein Doppelalbum veröffentlichen sollen, die Heavy-Songs mit den Prog-Songs vermischt. Das Veröffentlichen zweier getrennter Alben war Mist, und es kam wie ein Verkaufstrick ‘rüber – ich kann nur sagen, das kam hauptsächlich von der Plattenfirma, ich hätte das einfach nicht mitmachen sollen. Ich finde aber, es hat jede Menge großartiger Songs wie ‘And The Druids Turned To Stone”, ‘Last Man On Earth, ‘Into The Black Hole’… ja, ich würde diesem Album gerne noch ein wenig Extra-Liebe gönnen!

Arjen Lucassen, Foto: Lori Linstruth

Surftipps zu Arjen, Ayreon etc.:
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Wikipedia (Arjen)
Wikipedia (Ayreon)
Arjen im betreuten Interview 2017
Rezension “The Theater Equation”
Rezension The Gentle Storm “The Diary”
Rezension “01011001” (2008)
Konzertbericht Star One, 2002, Bochum, deutsch
Live review Star One, 2002, Bochum, english

Fotos zur Verfügung gestellt von Netinfect
Alle Fotos außer Tom Baker & Dee Snider: Lori Linstruth
Foto Dee Snider: Stephanie Cabral
Artwork aus dem Comic: Felix Vega