CD Kritik Progressive Newsletter Nr.78 (08/2013)

The Archestra - Arches
(48:05, Soleil Mutant, 2013)

Ich weiß gerade nicht, wer in den letzten Jahren damit angefangen hat, aber seit dem Erfolg von Bands wie Aranis (im Erbe von Univers Zero, Henry Cow und Art Zoyd) schließen sich vermehrt Musiker zu Kammer-Rock Ensembles zusammen, Musik zu kreieren, die zwischen Neuer Musik, Avant Prog, Jazz(rock) und Avant Folk neue Pfade eintritt. The Archestra gehören genau in diese Kategorie. Die Weißrussen sind stark von ihren erfolgreichen Landsmännern Rational Diet beeinflusst; nicht nur dies, Bläser Vitaly Appow, Schlagzeuger Nikolay Semitko und Bassist Dmitry Maslovsky spielen in beiden Bands. The Archestra ist also ein Seitenprojekt von Rational Diet und wird mit Sicherheit Aufmerksamkeit und Erfolg in der Avant Prog Szene feiern, die hohe Qualität spricht dafür. Im Unterschied zu anderen Kammerrock-Ensembles sind The Archestra stärker rockgeprägt, wenn die Instrumentierung auch überwiegend klassisch ist und die Rockpassagen nur partiell zum Einsatz kommen. Und es sind deutliche Einflüsse von Mike Johnsons Thinking Plague und Dave Kermans 5uu's zu hören, dazu Zeuhl-Einflüsse, Metal-Artiges und an Henry Cow Erinnerndes. "Arches" enthält 12 Tracks, ist 48:05 Minuten lang, setzt auf romantisch verspielten Nonsens mit partiell fast kindlicher Attitüde in grandiosen Kompositionen und ist im Anteil der 'Neuen Musik' - typischen Partien erheblich radikal und freitonal, was im Erbe von Witold Lutoslawski und ähnlichen modernen Komponisten anklingt und großartiger "klassischer" Teil des Werkes ist. Indes sind die verschiedenen Lager so stark ineinander verwoben, das konservative Fans in Klassik wie Prog oder Jazz wohl ihre Pillen brauchen, um den frivol bösartigen Klang nachvollziehen, geschweige denn akzeptieren können. Avantrock-Freaks werden ihre Freude haben, dem schick 'schräg' etablierten Songreigen mit seinen Stilbrüchen und Lagerwanderungen lauschen zu dürfen. So entwickelt sich aus einem dramatischen neuklassisch 'schrägen' Disharmonie-Motiv eine Klezmer-Note, die, kaum angespielt, schon wieder im Chaos der tonalen Wucht untergeht, aus der ein Mix aus Jazzrock, Neuer Musik und Henry Cow steigt. Wenn die Dame (Nadia Krystia) die Stimme anhebt, scheint die Chose einen eher clownesk verschmitzten Charme zu entwickeln, der in kraftvollen Avantrock absackt, woraus sich quasi-psychedelisches Quietschen mit Klassikrock-Parallelität entwickelt ("Train"). Manches Stück ist zwar etwas schlichter gehalten, nichts indes ist wirklich schlicht oder einfach, alles ist von gewisser Disharmonie und rhythmischen Brüchen geprägt, manche harmonische Motiventwicklung scheint eher ein verrückter Versuch, überschäumenden Humor mit dramatischem Extrem zu vereinen, was ungemein gut gelingt und verblüffend eingängig wirkt. Manches Mal indes, wenn Nadia Krystia die Stimme erhebt, quietscht und kreischt ihr 'Gesang' gewollt so neben jeder Spur, dass die Gewöhnung daran nicht ohne Aufwand (die Pillen bitte!) ist. Dagmar Krause sang völlig anders, übt gewiss dennoch Einfluss aus, und Nadia Krystia hat ebenso Charakter in der Stimme wie in der Intonation; sehr mutig, so gewaltig und erheblich 'schräg' zu klingen. Der Gesamteindruck hat so seine markanten Anteile, die es zu erobern gilt. Und manches Mal, wenn etwa kurz eine tatsächlich eingängig straighte Rocknummer ein paar Sekunden bestimmt, und Verblüffung ob der Schlichtheit sich einstellen will, entflicht sich ein wahrhaft komplexes Motiv über diverse Instrumente, das disharmonische und harmonische Motive sich kreuzen und zu dritter Harmonie finden, aus der die Band dann in wieder 'schräge' Untiefen abtaucht, um anderwärts weiter zu wirken. So komplex und vielschichtig die Musik des "The Archestra" klingt, so oft kann "Arches" gehört werden und wirkt immer wieder neu und überraschend. Progressive Rock wird mit The Archestra nur unbedingt reicher. Für Avant-Experten ist das Debüt der Weißrussen ein Geschenk, das nur unbedingt gehört werden will. Mir persönlich gefällt The Archestra ob seiner fast unverschämten, freimütigen, clownesken, tiefsinnigen Verrücktheiten durchaus besser als Rational Diet (und schon die gehen oft durch den CD-Player). Hier ist so ungemein viel und Ungeahntes zu erleben, dass die Ideen der verrückten Gesangsdame, die Chefin, Komponistin und Produzentin des Projektes ist, trotz einiger erheblicher Schrägst-Gesangsleistungen, immer wieder neu wirken. Ich bin mir nicht sicher, ob die graphischen Beiträge im Booklet im direkten Zusammenhang zu einzelnen Tracks stehen - so wirkt es indes. Tut euch das an!

Volkmar Mantei



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