CD Kritik Progressive Newsletter Nr.77 (03/2013)

The Living - The jungle is dark but full of diamonds
(51:41, Privatpressung, 2012)

Eines der bestgehüteten Geheimnisse des etwas anderen Prog sind die kanadischen The Living. Schon 2007 ließen sie mit ihrer "The sin EP" aufhorchen. Es folgte eine weitere EP namens "Bedd Tracks", die sich als noch beeindruckender in die Gehörgänge fraß. Nun, endlich möchte man sagen, gibt es das erste Full-Length-Album der Band. Die Combo um Ideengeber Mike Bell (Gesang, Piano, Rhodes, Gitarren) bieten einen kammerorchestralen Rock Pop mit enormer Spielfreude und großem Abwechselungsreichtum. Federführend sind hierbei akustische Elemente wie Cello, Violinen, Contrabass und die sagenhaft gute Stimme vom Boss. Dabei stellt man sich immer wieder die Frage, ob das gebotene avantgardistische Züge aufweist, und wie, wenn es denn so ist, es trotzdem so verdammt eingängig klingen kann. In den mittellangen Stücken tauchen Funk-Elemente auf, Klezmersounds werden angedeutet, Es bratzt und rockt, dass es eine wahre Freude ist. Jauchzend und "zigeunerhaft" werden Ska- und Metalanteile verwoben und die an einen gewissen Mike Patton erinnernde Stimme verbringt die Band in die Nähe von solch großartigen Projekten wie Mr. Bungle oder Faith No More. Wobei The Living sich die ultimative Selbstständigkeit dadurch erhalten, dass sie eben so unglaublich eingängig sind. Da wird gejazzed, punkige Chöre eingeflochten, symphonische Parts verwoben (warum haben Muse mit so was Erfolg und The Living kennt kein Mensch?) und die verrückte Spiellust eines Frank Zappa scheint durch. Diverse Samples und musikprogrammatische Elemente runden das wilde Bild ab. Doch es ist nicht so wild wie es erscheint, denn das passt alles wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Der Sound des Albums ist kratzig und "live", vielleicht findet man an den etwas pappigen Drums ein Haar in der Suppe, doch das fällt nur auf, wenn man nach Schwächen sucht. Ein klassisches Crossover-Projekt versteckt sich hinter The Living, Spaß macht was funktioniert und funktionieren tut auf diesem Album so ziemlich alles. Es ist modern und gleichzeitig traditionell, es ist stimmungsvoll und rockend, es bietet immer wieder Wendungen, die beim Zuhören einfach begeistern und es ist alles in allem vollkommen unverkopft und freudvoll. Es ist überhaupt nicht möglich in Worte zu fassen, was für ein Erlebnis diese Platte ist. Mit klassischem Prog hat das natürlich gar nichts mehr zu tun, aber für Freunde der "etwas anderen Erfahrungen" kann dieses Album ein Volltreffer sein. Vielleicht setzt sich die Band aber auch zwischen alle Stühle, da sie zum Beispiel für Fans von Sleepytime Gorilla Musuem oder Idiot Flesh (der Vergleich ist auch stimmiger) zu eingängig erscheint, für Freunde von anspruchsvollem Pop aber wiederum zu abgedreht sein mag. Mich trifft dieses Album allerdings 100% im Herz in Hirn und verschafft mir eine runde Stunde Dauergrinsen. Im Oktober 2012 veröffentlicht, gehört es somit zu meinen Platten des Jahres 2012. Wenn "The jungle is dark but full of diamonds" nicht gar das beste Album dieses Jahrgangs ist.

Fix Sadler



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