CD Kritik Progressive Newsletter Nr.77 (03/2013)
The Enid - Invicta
(52:24, Operation Seraphim LTD, 2012)
Eines Tages war ich zu Besuch bei WE. Da lief eine CD im Hintergrund mit klassischen Tönen und einer weiblichen Opernstimme. Ah ja, WE hat ja schon immer ein sehr breites Spektrum gehabt. Nun, ich ja auch. Und so hörten wir später am Abend diese CD noch einmal intensiver. Irgendwann fiel mir auf, dass gar keine weibliche Stimme zu hören ist. Hier singt Joe Payne, welcher neu der Gruppe beigetreten ist. Max Read singt zwar immer noch bei The Enid mit, beschränkt sich aber jetzt auf den Backgroundgesang. Die neun Songs sind allesamt epische Dramen. Die Kompositionen gefallen sehr gut und sind ausgeklügelt. Bei der Klassifizierung dieser Scheibe tat ich mich sehr schwer, da The Enid einen Crossover versuchen. Einerseits chorähnliche Arrangements, dann wieder rocktypische Instrumentierungen im Vordergrund. Ich fand The Enid früher immer überbewertet. Diesmal hat mich "Invicta" allerdings mehr als überzeugt. Ich empfehle, diese CD nicht im Hintergrund zu hören, sondern sie ganz bewusst laut zu konsumieren. Wer mit klassischen Stimmen und vorwiegend klassischer Musik seine Probleme hat, lasse die Ohren (bzw. Finger) weg. Für vielseitig Interessierte wird dies eine richtig interessante Entdeckung sein.
Klaus Bornemann
Das erste Studioalbum mit dem neuen Sänger Joe Payne und frischen Songs wurde mit großer Spannung erwartet. Mit "Journey's end" war die Meßlatte sehr hoch gelegt und mit "Invicta" wird diese knapp verfehlt. Mit einem gewaltigen Knall geht es gleich gut los. "One & the many", mit 10 Minuten der längste Song des Albums, lässt einen einigermaßen staunen, man glaubt doch tatsächlich den Thomanerchor zu hören. Nach einer Weile war mir klar, hier singt tatsächlich Jon Payne. Naja, er ist dem Knabenchoralter noch nicht lange entwachsen. Zum Ende hin wechselt er zu seiner natürlichen Stimmlage. Trotz der nun noch stärkeren Hinwendung zum Gesang ist "Invicta" immer als The Enid zu erkennen, so würde beispielsweise das folgende "Who created me?" ohne Gesang auf "Aerie Fairie Nonsense" eine gute Figur machen und nicht sonderlich aus der Rolle fallen. Das anschließende "Execution Mob" überzeugt leider nicht, auch wenn es kein öder Popsong ist. Nach 4 Minuten ist der kleine Ausfall überstanden und umso überzeugender geht es weiter. "Witch hunt" erinnert eingangs doch tatsächlich etwas an Magma ("Weidorje"), weiterhin ein recht abgefahrenes Gitarrensolo von Jason und verstärkter Paukeneinsatz, gewaltig! Und mit dem einzigen Instrumental "Heaven's gate" geht es grandios weiter, hierbei Jasons Gitarre in Zwiesprache mit dem "Orchester". Zum Teil ist "Heaven's gate" eine neue Bearbeitung von "The art of melody". Das darauf folgende "Leviticus" wirkt geradezu feierlich. Auch "Villain of science" kann überzeugen (starke Orgelsounds), mit "The whispering" klingt das Album recht ruhig aus. Fazit: Fans der ehemaligen Instrumental-Band The Enid werden sich an dieses Album mit dem teils opernhaften Gesang erst einmal gewöhnen müssen, selbst im Vergleich zu "Journey's end" ist der Unterschied schon recht groß. Joe Payne könnte als Sänger noch eine ganz große Zukunft vor sich haben, die Lücke, die ein Freddy Mercury hinterlassen hat, kann er ausfüllen. Und es sieht auch danach aus, dass The Enid, trotz 40-jähriger Bandgeschichte, auch noch eine Zukunft haben. Ein wenig mehr gesangsfreie Passagen wären für meinen Geschmack durchaus erfreulich, man hätte dabei gar nichts vom Gesang wegnehmen müssen, die Spielzeit von 52 auf 65 Minuten verlängern, hätte zum optimalen Ergebnis geführt.
Jürgen Wissing
© Progressive Newsletter 2013