CD Kritik Progressive Newsletter Nr.77 (03/2013)

Serge Bringolf - Strave / Vison
(35:49, Soleil Zeuhl, 1981)

Die Veröffentlichungen von Strave I und II liegen heute wie damals parallel. "Strave 1" kam 1980 in die Plattenläden (sollen Zeitreisen möglich gemacht werden? Was für eine Frage! Von 1966 bis 1981 in Plattenläden leben und stöbern, stöbern, stöbern!). "Vision" folgte ein Jahr später. Soleil Zeuhl legte "Strave 1" im vergangenen Jahr auf, jetzt, 2012, folgt Album Nr. 2, "Vision". Weitere Parallelen gibt es kaum. Die Band ist fast komplett ausgetauscht, statt 4 LP-Seiten langer Stücke sind 5 Tracks enthalten, von denen zwei gerade einmal zwei Minuten laufen (die beste Komposition der Platte ist: die kürzeste!), Mallets sind weit in den Hintergrund gemixt. Musikalisch indes liegt "Vision" mit "Strave 1" auf einem Inspirationslevel. Jazz Rock Zeuhl ist Basis der Kompositionen. Der eröffnende Titeltrack "Vision" (10:14) ist ein hektisches Zeuhl-Monster mit Mano Kuhns stakkativem Gesang. Erst langsam entwickelt sich die Songstruktur heraus, wer nicht Fan von Zeuhl Gesang ist, wird hier gewiss abschalten. Wer indes derlei avantgardistische Strenge mag - und "Vision" ist ungemein streng - macht erheblich beeindruckende Erfahrungen. "Plus I" (2:05) im Anschluss ist eine neoklassische Bläserkomposition, sehr abstrakt und kühl, düster und klar, hinreißend streng und von ergreifender, dramatischer Harmonie. Könnte als Musik für die Eröffnung des Films "Flug nach Kobaïa" passen, zur perfekten Einstimmung in Musik und Film. "Plus II" (7:52) donnert als instrumentaler Zeuhl Jazz Rock auf bebendem Schlagzeugboden mit tiefer gelegtem Unisono-Gebläse - Hochachtung! Nach fast 4 Minuten Intro, das fast theoretisch wirkt in seiner Strenge und hoch getakteten künstlichen Rhythmusebene, entwickelt sich daraus flüssiger Jazzrock. Als wäre der Rhythmus umgekippt, fließt das strenge Thema auf rhythmisch vertracktem Schlagzeugspiel (plus Vibraphon) über Stock und Stein. So entwickelt sich erstes Leben auf eben noch totem Planeten. "Plus III" (2:27) legt bezüglich Strenge und Dramatik noch Kohlen auf. Allerdings hat der Track eine vermittelnde Gitarrenspur, die käsig wirkt und den ansonsten grandiosen Jazzrock mit leichter Blässe überzieht. Zwar machen die Bläser den schwachen Eindruck fast wieder wett, und der Gesang tut sein Übriges, aber diese dämliche jazzfunky-disco-Gitarrenspur bleibt von A bis Z dabei. Und trotzdem: gutes Stück! "Ma-Ho. Penata" lässt Alain Eckert (g), der für die Mitarbeit zu diesem Album zu Serge Bringolfs (neuer) Crew zurückkehrte, besser da stehen. Obschon: sein Einsatz ist kaum so eindrucksvoll wie der der vereinigten Bläserschar, die weniger Jazz als vielmehr Zeuhl spielen, diesen eigenartigen Mix aus Rock, Jazz, Folk, Neuer Musik und Co. Der weitaus weniger hektische, indes nicht weniger dramatische Song baut auf episch orientierten Zeuhl Gesang, über dessen Stetigkeit Bläser, Gitarre, Vibraphon, Bass und Schlagzeug ihre komplexen, pausenlos hochenergetischen Einsätze schieben. Und es geht weiter und weiter... Fabelhaft! Die von Udi Koomran im Tel Aviver Ginger Studio digital transferierten und gemasterten Aufnahmen zeichnet klarer, satter Klang aus, der alles aus den ursprünglichen Aufzeichnungen macht, was er kann. Ebenso eindrucksvoll und gelungen ist die Grafik der Veröffentlichung restauriert worden: Thierry Moreau. Strenger Klassiker, den ich nur empfehlen will.

Volkmar Mantei



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