CD Kritik Progressive Newsletter Nr.76 (11/2012)

Marillion - Sounds that can't be made
(74:19, EarMusic, 2012)

Es wäre ein leichtes das neue Album von Marillion abzustrafen. Es wäre aber auch ein leichtes das neue Marillion Album zu loben. Rezensionen sind so eine Sache; Erwartungshaltung, Erfahrung, Geschmack - alles rein subjektiv, immer. Ich gehöre zu den Marillion Hörern der ersten Stunde, das vorweg. Ich habe Fish-Marillion geliebt und die H-Boys (fast) genau so. Keine Band bevölkert mein CD-Regal wie die Briten und ich glaube auch, dass ich keine Band kenne, die mehr Veröffentlichungen herausgebracht hat, als eben jene Marillion. Studio- und Live-Alben, DVDs, Making Ofs..., (viele, viel zu viele...) Best Ofs..., Vinyl-Singles, Maxis(!!), Box-Sets, Bootlegs - habe ich was vergessen? Ich bin ein Marillion-FanBoy und somit außerstande die Band "neutral" zu betrachten. Ich kann auch keine Rezi für Einsteiger absondern, das widerspricht meiner tiefen Beziehung zu der Combo. Allerdings habe ich meinem Fetisch schon vor geraumer Zeit abgeschworen und neige zu einer (über?)kritischen Bewertung ihrer Alben. Deshalb mal grundsätzlich: Wer auf melodischen Softrock mit emotionalen Höhepunkten steht, der sollte sich mal mit Marillion rund um Steve Hogarth beschäftigen. Ich empfehle "Brave", "Afraid of sunlight" und "Marbles". "Seasons end" ist auch nicht schlecht, die anderen Platten der Truppe sind erst im zweiten Schritt beachtenswert. "Sounds that can't be made" ist das erste "echte" Studio-Album seit 2008. Zwischendrin gab es eine Resteverwertung in akustischer Form. "Less is more", vernachlässigenswert. Seit dem (durchaus auch allgemein so eingeschätzten) "Meisterwerk" Brave hat sich die Band auf eine strukturelle Vorgehensweise geeinigt, die man als "Jam-Komposition" bezeichnen kann. Das bedeutet; die Musiker treffen sich mit vagen Ideen im Studio und probieren live ein bisschen auf den Ideen rum. Textliche Ansätze sind Teil des Entwicklungsprozesses und sorgen dafür, dass die "Jams" stimmungstechnisch angepasst werden. Das Ganze wird mitgeschnitten und später ausgewertet. Was gut klingt wird reproduziert und auf Zusammenhang getrimmt. So hat das übrigens Genesis ab "Abacab" bis "Calling all stations" auch gemacht. Witzig, gell? Und jetzt wisst ihr auch, warum Genesis-Longtracks (also; ab "Abacab") so austauschbar klingen... Austauschbar! Stichwort. Marillion klingen austauschbar. Nicht "Sounds that can't be made", sondern die Alben der letzten 15 Jahre. Alle! Mal sind sie besser ("Marbles"), mal sind sie furchtbar ("Radiation" - obwohl die gar nicht so schlecht ist), mal sind sie egal wie "Somewhere else" oder der Doppeldecker "Happiness is the road". Mal haben sie richtig tolle Songs ("Planet Marzipan", "Man of a thousand faces", "Cathedral wall" oder vieles, vieles von "Marbles"), mal ist es enervierend und krampfig ("Anoraknophobia" oder "Marillion.com"), Bestand hat eigentlich nur Hogarth's großartige Stimme, die aber von vielen als zu weinerlich empfunden wird... Was soll man da machen, die armen Marillionäre. Das Problem ist also nicht "Sounds that can't be made", sondern all die anderen Alben der letzten Dekade. Gäbe es die nicht, so wäre das aktuelle Album interessant. So ist es nur eine weitere Produktion, bei der z.B. aus dem 17-Minütigen "Gaza" wahllos ein Part herausgeschnitten werden, an einen wahllos gewählten Part aus "Interiour Lulu" ("Marillion.com") gepappt und als neuer Marillion-Song verkauft werden könnte... Austauschbar im wahrsten Sinne des Wortes. Marillion klingen seit 15 Jahren absolut gleich. Nicht oberflächlich gleich, sondern tiefgründig gleich. Die Songs sind nicht dieselben, kein "Dieter-Bohlen-Syndrom", aber sie sind strukturell, im Aufbau und im Ablauf immer gleich. Marillion ist eine Band die von Atmosphäre lebt, die Stücke sind im Grunde nur noch wabernde, zähe Atmosphäre... Und jetzt kommt der FanBoy in mir durch! "Sounds that can't be made" ist besser als die letzten 2 Alben, besser als "Anoraknophobia", "Marillion.com" und "Radiation", ja sogar als "This strange engine"... Aber was heißt das bei einer Band, bei der ich allen Ernstes mal gedacht habe, dass sie nicht in der Lage ist auch nur einen schlechten Song zu schreiben? Die Platte ist etwas rockiger, etwas stringenter, etwas mitreißender als die Vorgänger. Sie ist dennoch fast doppelt so lang, wie sie sein müsste... Songs zwischen 6 und 17 Minuten, Ideen für 2 bis 7 Minuten... Außerdem nervt mich der Rothery-Hawaii-Sound der letzten Jahre. Wer den nicht kennt, hat jetzt einen Grund das Album zu kaufen. Ricky King in "Prog"... Es ist leicht das Album abzustrafen. Aber es werden sich viele Marillion-Fans finden, die die Platte in der Band-internen Rangliste hoch einstufen. Mich beschleicht das Gefühl, dass Marillion immer dann, wenn die Basis anfängt zu murren, ihre Brave-Jams wieder hervorkramt und ein "Brave-Revisited" einspielt. Länger ist besser, düster ist cooler, dramatisch ist beeindruckender. Das Fazit fällt also zwiespältig aus. Die Platte macht als Marillionado durchaus Spaß und wer unvorbelastet mit den angezeigten Vorlieben an das Album herangeht, wird Unterhaltung finden. Aber eigentlich ist das ziemlich gut produziertes Nichts. Ich mag es trotzdem. So ist das mit den Fans...

Fix Sadler



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