CD Kritik Progressive Newsletter Nr.76 (11/2012)

Ange - Escale à Ch'tiland / La 40ème rugissante à Lille, Thèate Sèbastopol 19 Mars 2010
(136:36, ArtDisto, 2012)

Wieder einmal, fast unbemerkt von der Progöffentlichkeit, veröffentlicht eine der langjährig aktivsten und qualitativ hochwertigsten Band der Prog Historie eine Live-DVD (+ Doppel-CD). Ange (deuxième generation) feiern auf "Escale à Ch'tiland" ihr 40-jähriges Bestehen und gleichzeitig ihr fortwährende Entwicklung von der Klassiker-Combo der 70er Jahre, über die dunklen 80er Jahre mit Auflösungserscheinungen und der triumphalen Wiederkehr in den 90er Jahren, die zu der Besetzung geführt hat, die nun auch schon wieder fast 20 Jahre gemeinsam auf der Bühne steht. Aus Christian Decamps (Leader und Gesicht aller Ange-Generationen) et fils (und Kinder) wurde Ange, mit Hassan Hajdi, Thierry Sidhoum und Tristan Decamps als Kerngerüst der modernisierten Truppe. Ergänzt wird dieses Kern-Quartet mit Caroline Crozat, die hier allerdings ihre Abschiedsvorstellung gibt, und "Neu"-Drummer Benoit Cazzulini. Ange ist nicht nur Live eine herausragende Erscheinung, aber vor allem Live zelebrieren sie ein Musik-Programm-Theater, wie es dem geneigten Prog-Fan nur eine Freude sein kann. Basierend auf ihrer konsequenten französischen Ausrichtung, bekommt man allerdings eher selten die Chance, die Band livehaftig zu erleben. Dies wird seit einigen Jahren mit der Veröffentlichung von mannigfaltigen DVDs ausgeglichen. "Escale à Ch'tiland" ist die fünfte oder sechste DVD Veröffentlichung der Band. Hinzu kommen sicherlich ein Dutzend Liveaufnahmen als Audio CD. Zuviel? Mitnichten! Zu Anlass des 40jährigen Bandbestehens hat die Combo wieder einmal tief in die Trickkiste gegriffen und präsentiert Stücke aus allen Phasen der Truppe. Dabei treffen wiederkehrende Klassiker wie "Ode à Emile", "Hymne à la vie", "Sur la trace des fées", oder "Ces gens-là" auf seltener gespielte Longtracks wie "Capitaine coeur de miel" oder "Le vieux de la montagne", aber auch eine überraschend große Auswahl an Stücken aus den 80er Jahren, die im Live-Umfeld aber nicht mehr viel mit dem typischen Plastik-Sound der Originale zu tun haben. Neben den rearrangierten und modernisierten musikalischen Umsetzungen der Ange-Stücke brilliert die Combo aber auch einmal mehr als visuelles Ereignis. Wer sich gelegentlich fragt, warum das Medium DVD von Progbands (die eh nur `rumstehen und möglichst studiogetreu nachspielen) überhaupt genutzt wird, wird bei Ange sein blaues Wunder erleben. Extrovertiert, vollkommen überzogen und mit schmerzhaft fremdschämbehaftetem Pathos präsentieren die Performer ihre Stücke. Aber auch augenzwinkernd, konzeptionell, geschmackvoll ausgeleuchtet und mitreißend geschauspielt. So gibt Caroline Crozat eine Verballhornung des "weißen Clowns", gleichzeitig französischer Land-Tölpel und selbstbewusster Chansonier. Höhepunkt des Ganzen ist eine fantastische Performance in "Fou!", bei der Christian Decamps Akkordeon spielt und der Crozat das Feld für ihren exaltierten Auftritt überlässt. Unterstützt wird die Szenerie durch einen Schwarz-Weiß-Film-Filter, der zum Höhepunkt eine Stummfilm-Information "Solo!" einblendet. Liebevoll in Szene gesetzt zeigt diese Herangehensweise an das Medium DVD all die theatralische Lust der Band auf visuelle und auditive Erfahrungen. Caroline Crozat als elementarer Bestandteil der Live-Band wird kaum zu ersetzen sein. Sehr schade, dass sie 2010 ihren Ausstieg erklärt hat. Aber natürlich ist auch Zerberus Decamps ganz in seinem Element. Als alternder Kapitän, als Speichelspeiender Bühnenderwisch oder als Rock'n'Roll-Performer. Auch im Alter von rund 65 Jahren ist "Monsieur-Ange" noch voll bei der Sache. Sein Sohn Tristan steht ihm kaum nach, seine Keyboardburg wippt aber fällt nicht, sein Haar wallt, seine Augen rollen, seine Stimme überschlägt sich. Die Leute müssen verrückt sein, aber es macht Spaß zuzusehen. Der Rest der Combo hält sich vornehm zurück, spielt hochwertig, professionell, teils begeisternd (Cazzulini, Hajdi), teil cool und edel (Sidhoum - der aber auch hier und da Solo-Spots bekommt). Noch mehr Theatralik wäre aber auch kaum auszuhalten. Sicherlich ist eine DVD (bzw. eine Live Doppel-CD) nicht unbedingt typischer Einstieg für Neulinge in der Welt von Ange. Andererseits wird auf diese Weise der gesamtheitliche Ansatz der Band deutlich. Es geht um Chanson, es geht um Folk, es geht um Hardrock, es geht um vielteilige, symphonische Geschichten und manchmal geht es inzwischen auch immer mal wieder um moderne Pop-, Techno-, Ambient-Elemente, die dem Ange Sound eine weitere Dimension verleihen. Und es geht um die visuelle Umsetzung dieser Soundelemente, die man in der Musik schon vermutet, aber erst durch den Live-Eindruck verifizieren kann. Zumal die französischen Texte dem Folgen der Geschichten natürlich schwer macht. Insofern kann ich sowohl Ange Kennern diese DVD empfehlen (sie erreicht nicht ganz das Niveau von Live Tour 2003-2004 - "Par les fils de Mandrin", obwohl ich die Songauswahl einen Ticken besser finde), als auch Ange Einsteigern, denen ich sowieso und vor allem die Live-Alben der Band ans Herz legen möchte. Das Live-Erlebnis mit Ange ist die Essenz dieser Band.

Fix Sadler



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