CD Kritik Progressive Newsletter Nr.76 (11/2012)
Altrock Chamber Quartet - Sonata Island goes RIO
(48:40, AltrOck Productions, 2012)
Zum Altrock Chamber Quartet (das im Altrock kein groß geschriebenes 'O' führt) gehören Emilio Galante (fl, piccolo), Valerio Cipollone (b-cl, cl), Andrea Pecolo (vi), Bianca Fervidi (ce) und Massimo Giuntoli (p) - Letzterer ist in nur einem Track zu hören. Die CD enthält 10 Tracks, von denen zumindest 6 (vermutlich mehr, VM weiß mal wieder nix) Transkriptionen mehr oder weniger bekannter Rock- und Rock in Opposition Stücke sind, etwa von Fred Frith, Univers Zero, Yugen. Dank der virtuos-komplexen Spielweise der radikal umgebauten Kompositionen sind die Originale nur marginal wieder zu erkennen, so etwa Univers Zeros "Presage", das zumindest am Songbeginn durchschimmert. Die Originale haben hier keine Bedeutung, es geht um, wie das Label es meint, die wahre Essenz von "alt-rock". Die CD ist für RIO-Fans gemacht, nicht für Progressive Rocker. Letztere werden gewiss kaum Freude an "Sonata Islands goes RIO" finden, was zum einen an der klassischen Instrumentierung liegt, zudem an den Arrangements. Der Songaufbau hat klassische Strenge mit moderner, Neumusikalischer Radikalität und quasi-atonaler Extravaganz. Und doch sind Parallelen zu Neumusikalischen Klassikern wie Strawinsky, Schostakovich, Schnittke oder Ligeti nicht im Ansatz auszumachen. Die RIO-Arrangements des Altrock Chamber Quartet werden wohl kaum Jazzfreunden auffallen, wenn diese überhaupt die Existenz des Albums bemerken. Möglicher Weise können tolerante, neugierige Neoklassik-'Freaks' Interesse an diesem Werk haben. Dennoch: das Zielpublikum ist klein und dürfte in Charlys kleinste Festivalhöhle passen, zur Not übereinander. So virtuos das Quartett (+) spielt, die drei Streicher und der eine Flötist können die Rock-Energie der Originale nicht wiedergeben. Darum haben die Originale als Parallelen auch kaum Bedeutung. Es geht rein um diese Arrangements und die bedürfen genauen Zuhörens. Wer seine Konzentration einpendelt und erste Geduld walten lässt, kann schnell im Tiefgang der Stücke versinken. Der erste Eindruck von fremder Ernsthaftigkeit weicht nachvollziehbaren Eindrücken. Düstere Kratzigkeit wirkt wie die klassisch akustische Variante ausgefallen avantgardistischer Electronic. Komische, wenn nicht gar humoristische Passagen stecken in der wüsten Bedrohlichkeit der Stücke. In der disharmonischen Last der tonal sehr technischen und ungemein tonintensiven, komplexen Dramatik der Songs kullern seltsame Ideen umher, wohl überwiegend erst im gemeinsamen Spiel des Quartettes entstanden, kaum erdacht und bewusst gespielt. Diese clownesken Anteile stecken wie ein Spiegelbild in den dunklen Stücken, ihre Anwesenheit gibt der Lyrik Leichtigkeit, die unbedingt notwendig ist, um in der Schwere der Stücke nicht zu ertrinken. Indes ist nichts leicht und schwer an sich, die aus Rockmusikverständnis gewachsenen Neumusikalischen Arrangements sind deutlich banaler als die Großtaten, zu denen der anarchische Komiker György Ligeti befähigt war, und damit sehr leicht bis gar nutzlos; die klassische Instrumentierung mitsamt den quasiklassischen Arrangements macht die Kompositionen für derart geübte Ohren dafür schwer und schwerfällig. Und doch, nichts ist leicht und schwer an sich, die Stücke leben aus und für sich, ohne Vergleich. Schönster Track: Francesco Zagos "Brachilogia7" (und klar, die '7' muss dem 'a' in "Brachilogia" hoch angehängt werden, das kriege ich allerdings nicht hin). Das Stück ist komisch an sich, fröhlich, lebhaft, virtuos, leicht und schwer in einem, und es macht Laune. Insgesamt muss gelten: nur Mut!
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2012