CD Kritik Progressive Newsletter Nr.76 (11/2012)

Thinking Plague - Decline and fall
(46:55, Cuneiform Records, 2011)

"In Extremis" (1998) brachte Thinking Plague viel Aufmerksamkeit und Erfolg ein. 9 Jahre nach dem letzten Album ("In this life" 1989) und schleichender Bandauflösung spielte die Band, die es nicht mehr gab, deren Musiker verstreut in den USA lebten, die sich Tapes und Emails zusandten und ihre Parts allein und unabhängig absolvierten, und nur zum Studiogang die komplette Mannschaft anstiefelte, das Aufsehen erregende Album ein. 2003, zum Nachfolgewerk "A history of madness", meinte Kopf und Komponist Mike Johnson (g), würden Thinking Plague längst nicht mehr so "70s-mäßig" klingen (wollen). Personell ist die nicht existente Band, die gar auftrat und ein Livealbum veröffentlichte (2004 "Upon both your houses"), stets variabel. Und obschon die Siebziger heute noch weiter weg sind als 2004 und Wirbelwind David Kerman nicht mehr mit von der Partie ist, sind Mike Johnson (g) & Elaine Di Falco (voc), Mark Harris (sax, cl), Kimara Sajn (dr, keys) und Dave Willey (b) samt den jeweils in einem Track auftretenden Gästen Robin Chestnut (dr), Kaveh Rastegar (b) und Dexter Ford (b) 2012 mit "Decline and fall" wieder tief in die Siebziger gestiefelt. Siebziger freilich, wie Mike Johnson sie sieht, und was sich in komplex fettem Getrommel, Donnerbass, quasi symphonischen Arrangements mit lyrischen bis atonalen Partien und schneckenartig verzwirbelten Gitarrenläufen artikuliert. Darüber hinaus sind "typische" Thinking Plague Merkmale Teil der Songs, die der Band den markanten Namen und Stil verpassen: strenge Gesangs- und Gebläselinien, lyrisch verspielte, dabei hochkomplexe Harmonien, die nicht leicht eingängig sind, "schräge", exaltierte Passagen, die dem Prog-Donner parallel zur Seite gestellt sind, Nonsense-artige Gesangspartien, deren Sinn sich für Thinking Plague - Ungeübte gewiss nicht leicht erschließt und diese Harmonie- und Energiebrüche, die stets TP-Songs innewohnen. Ich vermute, dass Mike Johnson zum "In Extremis"-Konzept zurückgekehrt ist, weil "A history of madness" in seiner extremen Strenge und kaum Prog-bezogenen Avantgarde weniger Erfolg und Nachhall erregte, als das große Album mit dem düster-clownesken Zirkuswalzer "Les etudes d'orgasnism", dessen 14 Minuten sich heute noch so frisch und überraschend anhören wie beim ersten Mal. Indes sind Thinking Plague heute leiser, haben nicht einmal noch eine so grandiose Idee auf Lager und, obschon er das Album mixte und masterte, also involviert war, fehlt Bob Drake in der kompositorischen Idee. Darüber hinaus hat "Decline and fall" kein Manko. Die Songs 'funktionieren', haben Energie und Drive, rocken gar, lösen ihre konfliktbeladenen Melodiethemen in agogischen Puzzleverquickungen auf, springen von lautem Getöse zu lasziver Schwebe, in der gar Mellotron-artige Sounds das 70s-Ereignis überhöhen. Insgesamt scheint das neue Werk ganz genau aus dem Erbe von "In Extremis" zu stammen. So stark ist die Anlehnung an das eigene frühere Album. In jedem einzelnen Song. Mike Johnson kann der Vorwurf gemacht werden, nostalgisch zu sein. Das kann indes der ganzen Prog- oder Avant- oder Sonstwas-Szene angelastet werden. Vielleicht hat der Bandchef diese seine Muster so verinnerlicht, dass sie ihn nur unbedingt bestimmen und aus dem Erfolg des großen Albums können weitere Songs gebaut werden. Mir gefällt, was auf "Decline and fall" zu hören ist, die 6 Songs und 46:55 Minuten klingen wohl bekannt, obschon neu, überraschen gewiss nicht, haben aber dieses enorm beeindruckende Flair, das die Kompositionskraft Mike Johnsons ausmacht. In jedem einzelnen Ton, jedem Arrangement, jedem Klang und Instrument regeneriert sich Thinking Plague. Ich befürchte, dass dies das letzte Lebenszeichen unter diesem Bandnamen ist. Schade gewiss, vielleicht aber auch nicht. So bleibt das Erbe des grandiosen Klassikers "In Extremis" unbeschadet. Denn "Decline and fall" ist eine Reminiszenz an die eigene Band, aber keine Zerstörung des guten Namens.

Volkmar Mantei



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