CD Kritik Progressive Newsletter Nr.74 (02/2012)

Radio Noisz Ensemble - Odiszée Parck
(77:02, Garden Of Delights, 1983)

Das 1982er Album "Yniverze" bescherte dem Radio Noisz Ensemble gute Kritiken und Auftrittsmöglichkeiten. Die aus dem Erbe des Folkensembles Emma Myldenberger gewachsene Band fühlte sich ermutigt, neue Stücke zu schreiben, die sich weiter noch als die Songs ihres Erstlings vom Folk der Ursprungsband entfernten und zu freier, radikaler Musik tendierten. "Yniverze" hatte das Radio Noisz Ensemble im Eigenverlag veröffentlicht; für die neu eingespielten Stücke war das nicht möglich. Topsi Tkacz (Kontrabass, Violine), Biber Gullatz (Oboe, Flöten, Alt-Saxophon, Englisch-Horn, Stimme), Michel Meyer (Gitarre, Zither, Stimme) und Neuzugang Sigi Siegler (Tabla, Perkussion) hatten keinen Kontakt zu Plattenfirmen und ebenso kein Geld dafür, unter dem eigenen, für das erste Album gegründeten Label Ubu Muziek, eine Platte zu veröffentlichen. So brachte das Radio Noisz Ensemble sein neues Album kurzerhand auf Kassette unters Volk. "Odiszée-Parck" genannt, sind 6 Stücke auf der Kassette enthalten, deren eines, "Rara", in der jetzigen CD-Auflage in der ausführlichen Fassung, rund zwei Minuten länger als die für die Kassette gekürzte Version, enthalten ist. Etwa im September 1983 legte die Band ihr neues, etwa 26 Minuten langes Werk auf. Die Kassette wurde als Demoband an Veranstalter gesandt, und bei Konzerten an das interessierte Publikum verkauft. Die CD bringt es mit Bonusmaterial auf über 77 Minuten. Zusätzlich zu den Originalstücken in deren ursprünglicher, ausführlich eingespielter Form ist ein Track namens "Green bananas" enthalten, der etwa in der gleichen Zeit wie das Kassettenmaterial entstand, ein wenig älter gar ist, und aus für die Band nicht mehr erinnerlichen Gründen nicht für das Kassettenprogramm verwendet wurde. 5 weitere, teilweise recht ausgedehnte Stücke wurden während eines Konzertes am 12.12.1983 im Foyer des Gymnasiums in Soltau aufgezeichnet. Der die CD abschließende Song "Apparati" ist knapp ein Jahr jünger. Das Radio Noisz Ensemble bekam stets weniger Möglichkeiten, live aufzutreten. Doch während eines Konzertes am 02.11.1984 im Jugendzentrum Schlauch in Pforzheim kam das lange, an Univers Zero erinnernde Stück auf Band. Noch in den Jahren 1985 und 1986 war die Band aktiv; und durch Biber Gullatz, der während der frühen 80er Jahre Musik studierte, bekam das Quartett Kontakt zur klassischen Szene der Neuen Musik, 1983 gab es, nach nur einer Probe, einen gemeinsamen Auftritt des Radio Noisz Ensembles mit dem Improvisationsensemble des Seminars für Neue Musik, am 18.11.1983, währenddessen unter anderem "Der chrybische Printz" gemeinsam intoniert wurde. Die auf der CD enthaltene Version jedoch wurde lediglich vom Radio Noisz Ensemble allein gespielt. Die Konzertversion beider Ensembles ist augenscheinlich leider nicht aufgezeichnet worden. Der Titeltrack eröffnet die CD. Die ersten Themen sind erstaunlich avantgardistisch, die schnellen, radikalen Muster sind sehr fließend und forsch intoniert. Doch gleich darauf verfällt die Band in ein quasi psychedelisch minimalistisches Muster, dessen Grundpart der elektrischen Gitarre über weite Strecken unverändert bleibt und wie ein Mantra wirkt. Ein jeder Hörer wird sobald seine Entscheidung treffen: lasse ich mich in den Bann ziehen oder fliehe ich die stete Gleichförmigkeit. Nicht lange jedoch und die weiteren, überwiegend akustischen Instrumente setzen zu erheblich freiem Spiel an. Im Verlauf der über 11 Minuten langen Komposition bleibt der Grundrhythmus erhalten, doch Themenvielfalt und improvisative Soli geben dem Stück stets neue Farben. Oboe, Saxophon, (elektrische) Gitarre und Tabla sind die melodieführenden Instrumente. Der minimalistische Charakter kommt immer wieder einmal auf, um der Band an neuer Stelle andere Improvisationsmöglichkeit freizustellen. Besonders harsch oder frei wird die Band dabei nicht, es gibt Tendenzen zum Jazz und gewiss ansatzweise auch zum Free Jazz, indes sind die ethnischen Motive stärker; die im Off dämmernden Folkmoleküle greifen zu Weltmusik aus, deren Basis stoischer, nicht überbetonter Rhythmus ist. Freie Radikale beherrschen auch "Rara", das erste Parallelen zu den belgischen Kammerrockern von Univers Zero aufzeigt. Weitaus besonderer und für Avantgardisten interessant ist das hübsch schräge "Why art we so hungry?". Das Radio Noisz Ensemble war damit in den popverliebten Achtzigern gewiss fehl in der Zeit. Und während der Großteil Musikinteressierter vom witzigen Minikrach der Combo auch heute überfordert sein wird, dürfen sich Spezialisten auf "abgefahrenes Zeug" freuen. Die live aufgezeichneten Bonusstücke lassen im Klang etwas nach, gewiss, sind indes sehr gut zu genießen. Und die musikalische Qualität bekommt etwas mehr Tiefe, gerade "Der chrybische Printz" ist eine exzellente, jazzbetonte Komposition, die schön lebhaft und spielfreudig interpretiert wurde. Die allerfeinste Passage befährt "Apparati". Die exzellente Schräglage zeigt starke Tendenz zur Neuen Musik, zu Univers Zero, ist hinreißender Avant-Folk für extrahungrige Ohren.

Volkmar Mantei



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