CD Kritik Progressive Newsletter Nr.72 (97/2011)
Cheer Accident - No ifs, ands or dogs
(47:09, Cuneiform Records, 2011)
Ja, sind die denn völlig verrückt geworden? So ein inhomogener Schrägsound kann nicht von dieser Truppe kommen! Kompositionen, die den Namen nicht verdienen, Avantpop für Progressive, denen Progressive Rock zu alt geworden ist und für Alternative, die Schrammelsound mögen, der filigran und eingängig wie ungewöhnlich ist. Wie komponiert man Songs wie diese? Es gibt keine harmonische Struktur, die auch nur einen Song ungebrochen von Anfang bis Ende bringt. Die Kompositionen haben keine positiven Harmonien, wirken nicht angenehm oder höreinfach, sondern sind sperrig und dunkel, ohne die Schubladen zu bedienen, die dies sonst tun. Das instrumentale Spiel ist gewiss komplex, aber nicht von der Art Struktur, wie es Progressive Rocker lieben, die Songs sind Pop für Avantfreaks, als wollten die Beach Boys die totale Avantgarde erfinden. Song zwei, "Trial of error", donnert im Elektro-Kleid daher, und, mit Verlaub, verarscht alles, was Tanzmusik so kann, ohne allerdings Alternative dazu zu sein, nur Schräglage. "This is the new that" hat den treffenden Titel. Was hier so stolpert und stürzt, ist ein Fluss finsterster Monster, vereint im Kerker, ausgeliefert an den Sturz aus der Höhe, gegeneinander polternd, von einem Komplexschlagzeug im Bann gehalten, das jeder Idee von Rhythmus entgegengespielt und damit den Avantpreis der Weltnation bekommen müsste. Schließlich finden die abstürzenden Monstermotive tatsächlich zusammen, bauen ein abstraktes Songgerüst, das im Riffdonner des Basses atonalen Rock gebiert, wie dies Thinking Plague tun. Aus der Antimusik wurde Musik. Kann genial genannt werden. Und jedes der 15 Stücke wieder. Hochufer, Brüche, Steilküsten, Abstürze. Die ins Harmonische fließen. Eine Art Harmonie, die eher nichts Herkömmliches hat. Cheer-Accident wollen keine leichte Unterhaltung sein, keine unsichtbare CD zwischen tausenden anderen. Was sie spielen, ist die Herausforderung der Avantgarde - progressiven Avantgarde. Je mehr das Album im Player läuft, die sich sträubenden Ohren den Songs ausgesetzt sind, und Verständnis für die Stolperholper-Kriegsstücke wächst, so wächst die Erkenntnis für die Raffinesse der Kompositionen, die zuerst wie Knüppel vor den Kopf wirken. Wer derart hören möchte, muss Ausdauer haben und den zuerst negativen Eindruck verkraften, bis die Vitamine sich aufmachen und aus dem überbordenden Krawall plötzlich Musik wird. Rein mathematisch betrachtet tendiert die Masse des Publikums gegen Null, doch diese Nullränder, wenigen Hörer, die eben diese Extreme und Nebenlagen lieben, werden ein feines Album vorfinden, das einmal mehr wachsen lässt. Rockmusik für Fortgeschrittene.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2011