CD Kritik Progressive Newsletter Nr.72 (97/2011)

Yes - Fly from here
(40:35, Musea, 2011)

Folgende Dinge muss ich voraus schicken: A) ich bin mit Yes, Genesis, Gentle Giant, King Crimson und Konsorten aufgewachsen, für mich waren Yes Jahrzehntelang die absolute Nummer 1. Seit vielen Jahren stehen sie bei mir aber nicht mehr unter Denkmalschutz, dafür haben lausige Alben wie „Open your eyes“ und dieses nervige Nur-noch-die-Vergangenheit-verwalten, diese Verweigerung, in der klassischen – und nach wie vor besten – Besetzung neue Musik aufzunehmen, gesorgt. Außerdem gibt es in der Prog-Szene fraglos eine Vielzahl von Bands, die heutzutage bei mir noch einen gewissen Enthusiasmus auslösen können, nur heißen diese aktuell eben nicht mehr Yes oder Genesis. B) Dies ist ein Schnellschuss, denn die CD liegt mir erst seit wenigen Tagen vor und mehr als 4-maliges Hören war nicht drin. Insofern mag mein Ein-druck möglicherweise in ein paar Wochen ein Anderer sein. Das Fazit vorneweg: ich kann mit diesem Werk gut leben und es macht sogar an manchen Stellen richtig Spaß. Zwar gibt es einiges Nörgelpotenzial, aber dass ein positi-ves Fazit am Ende steht, liegt wohl daran, dass meine Erwartungshaltung nicht allzu hoch war. Ich habe ganz gewiss kein Prog-Meisterwerk erwartet. Und siehe da – es ist kein Prog-Meisterwerk. Ich habe auch nichts Innovatives erwartet. Und es wird wohl auch kaum jemand behaupten wollen, „Fly from here“ wäre innovativ. Nein, wirklich nicht. Gibt es Überraschungen? Hmm.. Vieles ist erwartungsgemäß. Cover? Roger Dean – klar. Produzent? Trevor Horn – klar. Und nach einer Horn-Produktion klingt es übrigens auch. Irgendwie war es dann auch nicht erstaunlich, dass der Keyboarder auf dem Album am Ende Geoff Downes heißt und eben nicht mehr Wakeman Junior (Oliver, um genau zu sein), der ja noch auf der letzten Tour dabei war (die ich doch tatsächlich verpasst habe – da kann man mal sehen, in den 70ern wäre sowas un-denkbar gewesen). Immerhin ist Oliver noch als Gastmusiker gelistet. Nächste logische Konsequenz: das Ganze klingt manchmal nach „Drama reloaded“, das dürfte nun auch nicht mehr wirklich überraschen. Okay – als ich damals, also vor über 30 Jahren, hörte, dass die Buggles bei Yes eingestiegen waren, hielt ich das zunächst für einen bösen Aprilscherz. War’s bekanntlich nicht. Und überraschenderwei-se war das Endergebnis damals ja durchaus überzeugend. Aus genau dieser Zeit stammt dann auch das Thema zum Titelsong, der auf Longsong-Niveau ausgeweitet wurde und – in 6 Kapitel aufgeteilt – den rund 24-minütigen Auftakt bildet. Bisweilen geben sie sich nun wirklich gar keine Mühe, die Nähe zu Drama zu verschleiern und sind sich auch nicht für Selbstzitate zu schade. Man höre sich nur mal „Madman at the screens“ an, da wurde die Gesangslinie von „Machine messiah“ nur geringfügig abgewandelt. Aber trotz aller Bedenken, ich stelle einen gewissen Hörgenuss fest. Das gefällt mir in weiten Teilen. Howe, der mich tendenziell in der letzten Zeit eher nervte, spielt feine Gitarren – natürlich darf auch ein Akustik-Gitarren Solo a la „Mood for a day“ nicht fehlen. Downes spielt wie immer. Kein Wunder also, dass es mal nach Buggles, mal nach Asia klingt. Oder Howes Gitarre erinnert auch mal an GTR wie zu Albumbeginn. Auch wenn es insgesamt ein wenig glatt klingt, und auch mal kommerzielles Tralala dabei ist – es macht Spaß. Ist halt keine 70er Yes Musik, das muss einem klar sein. Und bevor je-mand denkt, da hätte ich noch was vergessen: ja, es ist ja ein neuer Sänger auf einer Yes Studioproduktion zu vermelden. Benoit David macht seine Sache wirklich gut. Respekt! Er klingt für meine Begriffe eher wie Trevor Horn denn Jon Anderson. Na ja, logisch irgendwie, denn es ist ja praktisch der Drama-Nachfolger. Lediglich beim Anderson-artigen Gesang auf „Hour of need“ wird klar, dass er wohl live auch einen guten Anderson abgeben kann. Den Stellenwert, den Yes mal bei mir besaßen, werden sie nie wieder erreichen. Bestimmt auch nicht mit einem solchen Album. Aber was soll ich sagen – trotz aller Nör-gelei - es gefällt mir mit Abstrichen gut, zum Teil sogar sehr gut. Einige brillante Melodielinien sind schließlich doch zu entdecken, manches setzt sich letztendlich recht hartnäckig in den Gehörgängen fest. Es gibt übrigens neben der normalen Version auch eine Deluxe-Fassung, die zusätzlich noch eine DVD enthält, die – auch keine Überraschung – das Making Of des Ti-telsongs präsentiert. Die alten Herren nuscheln dort einige Erkenntnisse vor sich hin, wie toll die Zusammenarbeit mit Trevor Horn ist usw. Nur der Name Benoit David fällt komischerweise gar nicht, wenn es um das neue Album geht (ist mir zumindest bei der ersten Durchsicht nicht aufgefallen). Eine ehemals sensationelle Band meldet sich mit einem ordentlichen, wenn auch nicht essentiellen Album zurück. Übrigens: wer mal „Fly from here“ in der Urfassung hören möchte, wird auf dem Bootleg „The golden age of Buggles“ oder dem 3-CD Live-Digipack „The word is live“ von Yes fündig. Und noch eine allerletzte Bemerkung: Im direkten Vergleich zu anderen Alben, die ich mit 10 Punkten bewerte, ist das Yes-Album vermutlich besser, aber von Yes erwarte ich mehr, um sich 11 Punkte oder mehr zu verdienen.

Jürgen Meurer



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