CD Kritik Progressive Newsletter Nr.69 (07/2010)
Phlox - Talu
(55:30, MKDK Records, 2010)
Die Tallinner Phlox sind mit neuem Album zurück. Im März 2010 brachten sie mit ihrem aberwitzigen Jazzrock Charly Heidenreichs Freakshow Artrock Festival zum Beben, dass süchtige Freunde dieser deftigen Schräglagenspielart zu willenlosen Sklaven ihrer Hingabe wurden, und brachten "Talu" mit. Obschon die Bands musikalisch nicht miteinander zu vergleichen und verwandt sind, habe ich doch stets Höyry-kone im Hinterkopf, die Songnamen sind ähnlicher Kauderwelsch, vermutlich sind die Sprachen miteinander verwandt. Stilistisch sind Phlox nicht unbedingt auf fester Spur vorgegeben festgelegter Stilmarken - und treffen doch stets nach freien Fahrten und radikalen Irrfahrten auf typischen Jazzrock, wie er in den Siebzigern in Skandinavien und der Tschechoslowakei gespielt wurde, sehr europäisch, mit einer Spur Folklore im Blut, einiger abgründigen Düsternis, deftiger Rockhärte, erstklassiger Handwerkskunst und dem Gespür für Dramatik, die schon mal in brachiale Extreme ausbrechen kann. Komponiert wurden die Songs des zweiten MKDK-Albums (die vorherigen Werke sind mir nicht bekannt) von Schlagzeuger Madis Zilmer und Keyboarder Peau Helenurm, die auch dem Vorgänger ihre Handschrift verpassten. An der Besetzung hat sich nichts verändert, Kristo Roots (g), Raivo Prooso (b), Kalle Klein (sax) und Allan Prooso (perc) ergänzen das Line-Up. Als Gäste sind Vambola Krigul (vib), Maarja Nuut (vi), Liis Jürgens (h) und Ramo Teder (fl) gelistet, den Reigen bunter, prächtiger und ausdrucksstärker zu gestalten. Die Band lässt keine Wünsche offen, deftige Schräglage wird immer wieder in zwischen 4 bis knapp 8 Minuten (plus einem 1-minütigen Track am Ende) langen Songs erreicht, die Band strebt die komplexe, energische Auflösung der Songthemen an und taucht dazu tief ein, zelebriert Soli und improvisative Parts, deftige Bandinterplays und radikale Atonalitäten. Die Jazzrock-Suppe kocht fein gewürzt auf hoher Flamme und setzt auf erfrischend lebhaft und heftig ausgeprägte Schlagzeugrasanz. Nicht ganz so überschießend wie auf "rebimine + voltimine" und dennoch sehr heiß, deftig, lebhaft, dynamisch und radikal machen die 10 grandiosen Songs enorm Hörfreude. Wer klassisch heftigen Jazzrock mag, muss die Band unbedingt antesten, im Web sind dazu einige Tracks zu hören. Unbedingte Empfehlung!
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2010