CD Kritik Progressive Newsletter Nr.69 (07/2010)

Barry Cleveland - Hologramatron
(64:24, Moonjune Records, 2010)

Hand aufs Herz: Wann habt ihr das letzte Mal ein unbekanntes Prog-Album mit stetem Entdeckergeist, wachsender Begeisterung und fast kindlicher Freude von Anfang bis Ende durchgehört? Sie sind selten geworden, jene Glücksmomente aus den früheren, vor-digitalen Tagen, als ich noch tagelang durch die Plattenabteilungen streunte und unbekannte Albencovers studierte, in dieses oder jenes Album hineinhörte, um dann - nicht ganz ohne Herzklopfen - ein neues Beutestück nach Hause zu schleppen und es einer eingehenden, beglückenden Untersuchung zu unterziehen. Heute habe ich schon alles vorher gehört, kenne schon das Video, habe die Demos auf der Website gehört oder das Album vor dem eigentlichen Kauf x-mal im Streaming auf last.fm, myspace.com oder sonst wo gehört. Richtig überrascht hat mich im Prog-Sektor in den letzten Monaten nur wenig (und ja, ich weiß, dass ich nicht unschuldig daran bin, wenn ich halt alle Möglichkeiten der digitalen Promotion im Web nutze, um mich vorab zu informieren), vielleicht auch, weil es im Prog per definitionem nicht viel Neues geben kann. Doch bevor ich euch nun den Sermon des alten Mannes runterleiere, der beklagt, dass früher alles viel besser war, möchte ich lieber zum Thema kommen. Barry Cleveland ist ein Gitarrist, den ich zum ersten Mal vor über zehn Jahren auf Lou Maxwell Taylors denkwürdigem Album "Cheshire Tree Suite" (1999) gehört habe und dessen Solo-Album "Volcano" (von 2003) bei mir in vager, aber angenehmer Erinnerung geblieben ist: Instrumentale Musik mit deutlichem Ethno-Einschlag, einigen Fusion- und New-Age-Einflüssen (wenn ich den bösen Begriff "New Age" hier überhaupt ruhigen Gewissens verwenden darf, verbindet man damit normalerweise nichts Gutes). Doch nichts, was ich von ihm bereits kannte, konnte mich auf sein nun veröffentlichtes Album "Hologramatron" vorbereiten, denn es ist ganz anders und es hat mich wirklich umgehauen, so sehr, dass ich gestern im Auto sitzen bleiben musste, obwohl ich längst angekommen war und das komplette Album durchhören musste, so spannend und erfreulich fand ich das, was ich da zu Gehör bekam Kraftvoller Progressive Rock, teilweise mit aggressivem weiblichen Gesang und bitterbösen, sehr kritischen Texten über die USA (und die Welt) zu Beginn des 21. Jahrhunderts (der großartige Opener "Lake of Fire" beginnt mit den Zeilen: "Jesus has returned // as a militant conservative // no more "Mr Nice Guy" // or saintly superlatives // Jesus won't be turning the other cheek..." oder die zweite Nummer "Money Speaks" "Money speaks // everyone listens // screw the little man // with public relations // The press is free // to ask questions ...") und unüberhörbaren musikalischen Referenzen (und in einem Fall sogar einem Zitat, nämlich in "Suicide Train" in dem immer wieder das Gitarren-Riff von "Larks tongues in aspic, Part II" zitiert wird) an die düster-aggressiv-intellektuelle Musik, etwa so, als ob Peter Hammill der Mitt-1970er, Peter Gabriel (speziell jener der düsteren Alben "III" und "IV"), King Crimson in der "Red" - und in der "Discipline" -Phase Pate gestanden hätten, gerade bei den Nummern mit Gesang, obwohl der Gesang von Amy X Neuburg absolut nicht nach Hammill oder Gabriel klingt (dann schon eher nach Carla Kihlstedt oder Carla Bozulich). Dabei mangelt es dem Album wahrlich nicht an eigenen Ideen und Persönlichkeit, etwa in der schön traurigen Ballade, dem Duett "Stars of Sayulita" ("Even the stars // can't last forever // flicker and fade into night") mit ihre schwebenden E-Gitarre, der druckvollen Ethno-Fusion-Nummer "You'll Just Have To See It To Believe" mit Bass-Gott Michael Manring (der überhaupt den Sound des ganzen Albums mit seinem unverwechselbarem Groove entscheidend mitprägt), der Collagen-haften Nummer "Warning", die klingt, als sei sie von Crimos "Industry" inspiriert worden oder - und das ist wirklich eine überraschend - den beiden Cover-Versionen alter 1960er-Nummern, zum einen "What Have They Done To The Rain" (einer alten pazifistischen Nummer im Sixties-Pop-Sound, 1964 ursprünglich ein Hit der Searchers, später dann u.a. von Joan Baez, Marianne Faithfull und anderen gecovert) zum anderen "Telstar" (einer 1962 unfassbar erfolgreichen Instrumental-Nummer von den Tornados). Cleveland und seiner Band gelingt es den naiven Charme der 1960er zu erhalten, ohne allerdings den Sound des Originals wirklich zu reproduzieren. "Hologramatron" überzeugt durch das variantenreiche Spiel Barry Clevelands an der Gitarre, natürlich durch Michael Manrings Bass und nicht minder durch das exzellente Drumming von Celso Alberti, einem brasilianischen Drummer, dessen Name hierzulande zwar unbekannt ist, der aber bereits mit einigen Größen im Rock- und Jazz-Business (Steve Winwood, Airto Moreira, Flora Purim, Herbie Mann) zusammengearbeitet hat. Die aggressiv-bösen Vocals der Sängerin Amy X Neuburg (den Namen sollte man sich auf jeden Fall merken!) arbeiten den insgesamt bedrohlichen, resignierten und fast misanthropischen Charakter des Albums exzellent heraus. Kein Ethno-, kein Fusion-, schon gar kein New-Age-Album, sondern im besten Sinne des Wortes ein kunstvolles Rockalbum, mit vielschichtigen Einflüssen, das trotz allen Anspruchs unverkrampft und gut hörbar ist (ohne auch nur einen Hauch von massentauglicher Trivialität): Spannend von der ersten bis zur letzten Minute, aber wahrlich nichts für harmoniebedürftige Seelen: Eine bitterböse Abrechnung mit dem Zustand der westlichen Welt.

Sal Pichireddu



© Progressive Newsletter 2010