CD Kritik Progressive Newsletter Nr.68 (03/2010)
Chance:Risiko - Sleep talking
(40:25, AltrOck Productions, 2009)
Je jünger der Nachwuchs, desto ferner die ursprüngliche Inspirationsquelle und fülliger und dichter der Sound, der in ursprünglicher Sozialisierung und schließlicher (hier musikstilistischer) Eingruppierung einfach da ist und sich ins Bewusstsein bohrt, umso entrückter klingt ein Resultat, eines wie dieses, das junge, begabte und mehrfach gebildete Musiker eingespielt haben, die Frank Zappa und King Crimson (eher in den 80ern), Art Bears und Robert Wyatt, schließlich Pattern is Movement, Radiohead bis zu Time of Orchids und zuerst Thinking Plague, daneben gleichwertig György Ligeti als Inspirationsquell verrät und das nicht allein, unschuldige Einflusszonen nebenher abbauen muss und instrumental extravagant und technisch hervorragend arbeitet. Ein Spagat, der auf "Sleep talking" lässig bewältigt klingt. Verrückt! Meine Hochachtung. Paolo D'Alonzo singt in dieser hellen Tonart, wie dies nachwachsende Alternative Rocker tun, wählt dazu aber Gesangslinien, die von Mike Johnson (Thinking Plague) inspiriert sind. Giacomo Di Paolo, Gregorio Salce und Emilio Trevisani spielen neben ihrem umfangreichen Instrumentarium jeweils Vibraphon (Herzklopfen!), was in den innigen Alternative Avant Prog Pop (um es mal irgendwie auf einen Nenner zu bringen) Songs ungemein gut klingt. Die Songs sind eher still als laut, eher verkopft als lässig, eher dramatisch und im Sinne der neuen Musik ernst und anspruchsvoll, als das, was hinlänglich unter Rock oder Pop läuft. Nichts in den 11 kurzen Songs, die zusammen 40 Minuten voll machen, ist von eingängiger Finesse oder cooler Handschrift. Die harmonischen Komplexe sind hervorragend ausgebaut, das Erbe von Gentle Giant und Web / Samurai / Greenslade klingt hindurch, auch im Gesang, den Dave Lawson bei den beiden letztgenannten Bands nicht viel anders und ebenso innig gab. Die Ideen der Band sind phantasiereich, melodisch abstrakt, ausgefallen, bisweilen plötzlich heftig in der meistenteils melancholisch tiefen Ruhe. Typische Progkomplexe sind nicht auszumachen und doch ist jede kleinste und große Idee aufwendig und von verzwickter harmonischer Komposition. Gast Francesco Zago (Yugen) ist mit seinem Mellotron partiell unterstützend eingestiegen, sensibel die unwägbaren Läufe der Band unterstützend. Mitunter gehen die freien Töne ins psychedelische Feld, wo sie Klangstrukturen wie in der Neuen Musik entwerfen, Freie Radikale in experimenteller Schräglage, was mal von der Rockband aufgefangen wird, die herzhafte und progressive Komplexe intoniert, oder in lässiger Melancholie versandet. Chance:Risiko ist ein verrückter Glücksfall aus dem nie zuvor gedachten Nichts für Avantfreaks, die mit "Sleep talking" kompositorisch und instrumental erstklassige und virtuose Songs zum seltsamsten Entspannen zu hören bekommen, seit sie neugierig auf und süchtig nach Musik sind.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2010