CD Kritik Progressive Newsletter Nr.65 (05/2009)

Pierre Vervloesem - Not even close
(57:06, Still / Off, 2008)

Der Gitarrist veröffentlicht ein Album, auf dem kein Ton zu hören ist, der von der Gitarre stammt. Auf seinen früheren Produktionen und vordem bei X-Legged Sally und A Group hatte er bereits sein grandioses rhythmisches Feeling bewiesen. "Not even close" - Musik aus Tasten und Tastatur, Keyboards und Computer - könnte als Höhepunkt dieser Sichtweise betrachtet werden. Die harmonische und melodische Sprache der 14 Tracks ist avantgardistisch bis poppig, geprägt von Disharmonien, Humoresken und Sounds, die von komisch bis skurril reichen, in einem Moment melancholisch, im nächsten tölpelhaft, dann zappaesk schrill sind. Der Gitarrist braucht keine Gitarre, um sich auszudrücken. Wenn mir auch besonders zusagt, wenn er, Pierre Vervloesem, sein eigenwilliges Musikuniversum mit lauter Gitarre zelebriert. Bisweilen sind die jazzdurchfluteten, harmonietrunkenen, mit seltsam angenehmen Vocals ausgestatteten und aus Ameisenarmeen zu bestehen scheinenden Rhythmusbrüche etwas zu viel des Guten. Noch eben spalteten die elektronischen Töne den ureigenen Rhythmus der Komposition auf, da überschlägt es sich und Pierre Vervloesem lässt - nur für einige Sekunden - hammerscharfen Techno seine Idee bestimmen. Das kommt zum Glück nur zweimal vor. Die restlichen Tracks, mit ihren abertausenden von Ideen, Sounds und Hammerschlägen, sind Babies von Frank Zappas Kompositionsweise und eher Neuer Musik verwandt, denn Rock'n'Roll. Macht Laune, den "Songs" zuzuhören. Nichts bleibt über lange oder auch nur längere Strecken gleich, die einzelnen Songs verändern sich stetig und endlos und schmeißen ein unendliches Farbspektrum an urkomischen bis reichlich seltsamen, stets sehr inspiriert und witzig wirkenden Klängen aus - die nur wieder neugierig machen auf das, was da im Anschluss als nächstes nur kommen möge. Hin und wieder singt Pierre samt Gattin Michèle lautmalerisch und gibt diesem Kosmos schräger Ideen damit noch mehr Schräglage. Dann hustet er hier und dort, oder ist atemlos zu hören, wie er im Rausch der blitzschnellen Sounds von seiner eigenen Kreation eingeholt wird. Zirkusmusik. Kopfmusik. Unterhaltungsmusik. Intelligente Musik. Überraschungsmusik. Ein elektronischer Wirbelwind, der von allem etwas hat und nichts ist, was schubladisiert werden kann. Angekündigt sind drei Alben, über deren Entstehung Pierre Vervloesem meint: eine Serie guter Musik, was immer das auch heißen mag. Genau das steht dahinter: lasst euch überraschen und genießt es. Hat mir Spaß gemacht, diesen Freakcore so böse elektronisch und atonal harmonisch zu machen. Es gibt kein Gesetz, das nicht gebrochen werden will, um es zu bestätigen. In aller Extravaganz und Andersartigkeit sind diese Songs doch schlicht eingängig, zappen sich auf ihrem elektronischen Teppich ins Gehirn und kriechen durch die Wohlfühlsynapsen. Erregend!

Volkmar Mantei



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