CD Kritik Progressive Newsletter Nr.57 (11/2006)

The Mars Volta - Amputechture
(76:04, Universal Music, 2006)

Nur wenige Bands, die bei einem Majorlabel unter Vertrag stehen, haben dort absolute "Narrenfreiheit". The Mars Volta gehören dazu. Egal, nach welchen Unlogiken und Uneinsichtigkeiten sie ihre Alben veröffentlichen, der überraschende kommerzielle Erfolg gibt ihnen letztendlich Recht. Vielleicht lässt sich aber ebenfalls ein Teil der recht hohen Verkaufszahlen mit der Verbindung zu den Red Hot Chili Peppers erklären. Während man im Vorfeld der ersten Veröffentlichung als Support Act von diesen tourte und man auch im November wieder gemeinsam die Bühnen unsicher machen wird, bei den letzten Alben Bassist Flea als Gast auftauchte, verfeinert dieses mal Gitarrist John Frusciante den Sound von The Mars Volta. Dennoch funktioniert "Amputechture" eben nicht nach den typischen rockmusikalischen Strickmustern, sondern man muss sich auch dieses Album erarbeiten. Beim Opener "Vicaruous atonement" und dem Rausschmeißer "El ciervo vulnerado" wird nicht richtig Gas gegeben, sondern ganz langsam ebnen hier bluesgetränkte Strukturen den Weg, und als Hörer wird man auf eine gewisse Geduldsprobe gestellt. Vorbei ist es glücklicherweise mit den vielen elektronischen Spielereien und zu langen Soundcollagen, die noch den Vorgänger "Francis the mute" unverhältnismäßig in die Länge zogen. Dieses Mal nimmt man sich eben mit "richtiger" Musik sehr viel Zeit. Trotzdem ist vieles des stilistischen Cocktails auf "Amputechture" bereits bekannt von den Vorgängern: viele jamartige Instrumentalpassagen machen den Weg frei für die 70er, aber natürlich gehören dazu auch Alternative Rock, ein Prise Salsa, Latin, Jazz Rock und viele inhaltliche, nervöse Brüche. Trotzdem will "Amputechture" zuerst nicht so recht in die Gänge kommen, wirkt im ersten Teil der CD einiges zu gedehnt, auch wenn gerade durch deutliche Hinzunahmen von Saxophon eine ganz neue Klangfarbe eingewoben wurde. Vielleicht liegt es eben einfach daran, dass The Mars Volta auf hohem Niveau auf der Stelle treten, man einfach diese eigenwillige Mixtur bereits kennt. So ist Titel 2, das über 16-minütige "Tetragrammaton", vollgepackt mit versponnen Ideen, einigen genialen Einfällen, jedoch bisweilen so verschachtelt, dass man fast schon die Orientierung verliert. Nur selten drücken The Mars Volta mal richtig auf die Tube, die Musik erscheint tiefgründiger, melancholischer, irgendwie noch sperriger. Doch der Teufel bzw. die Höhepunkte stecken im Detail. Spätestens mit dem vierten Track "Meccamputechture", 11 Minuten zwischen jaulenden Gitarren und jazzigen Improvisationen, wird man als Hörer langsam in die faszinierenden Soundwelten von The Mars Volta hineingezogen. Als krasser Wechsel nimmt die folgende Akustiknummer "Asilos Magdalena" die Stimmung wieder ganz gewaltig zurück, einzig der verstörende Schlusspart überrascht. Doch mit "Viscera eyes" geht endlich wieder die Post ab, vor allem die Mischung aus spanischen und englischen Lyrics sind das besondere Salz in der Salsa-Mars-Volta-Suppe. Der Song groovt mächtig und der zweite Teil steigert sich in einen ekstatischen Latin Rock Part. Das Beste jedoch (fast) zum Schluss: "Day of the Baphomets" setzt noch mehr auf Rhythmus, Improvisationen und vor allem jede Menge Jazz Rock. Hier wird in knapp 12 Minuten noch mal richtig schräg eine volle musikalische Breitseite abgefeuert. Besonders die Bläserparts verleihen dem Song die rechte Würze. The Mars Volta bleiben ein überaus interessanter Wanderer zwischen den musikalischen Welten, auch wenn "Amputechture" nicht unbedingt mit sehr vielen Neuerungen aufwartet. Kein spektakuläres, aber natürlich immer noch ein sehr gutes Album der eigenwilligen, unberechenbaren Soundbastler. Wie auch für die anderen Alben gilt: erst Probehören, dann kaufen, denn nicht jeder mag sich mit dieser Mixtur anfreunden.

Kristian Selm



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