CD Kritik Progressive Newsletter Nr.55 (04/2006)

Ray Russell - Goodbye Svengali
(66:14, Cuneiform, 2006)

Gitarrist Ray Russell klingt auf seinem neuesten Streich altersweise und erstaunlich leise. In den Siebzigern hat der Mann die Extreme ausgelotet und zwischen Jazz und Rock die avantgardistischsten Alben eingespielt. Eines seiner Solo-Arbeiten ist dermaßen schräg und harsch, dass es kaum anhörbar ist, die laut kreischende Gitarre sägt sich durch atonale Strukturen, als wollte sie dem Hörsinn den Krieg erklären! Nichts davon auf "Goodbye Svengali". Gewidmet ist die Arbeit Russells Vorbild Gil Evans, die Kompositionen jedoch stammen von Russell selbst beziehungsweise einigen seiner Mitarbeiter. Den Auftakt der CD macht das 10-minütige "Everywhere", ein leidenschaftlicher Jazzrocker, harmonisch tief im Jazz verwurzelt, kraftvoll rockbetont in der Aussage. Gitarre, Keyboard und Bass unterhalten die melodische Struktur, Gitarre und Bass solieren eindrücklich. Das differenzierte Schlagzeugspiel stammt von Gary Husband, der auch die Fusion-typischen Keyboardsounds einspielte, die von unglaublicher Spannung sind. Große Hörfreude! Schon im ersten Song machte sich so eine Ahnung auf, dass die CD auch auf ECM hätte veröffentlicht werden können, dem ECM der Mittsiebziger, als diverse Künstler Alben einspielten, die stilistisch zwischen Jazz und Rock stattfanden. "Without a Trace" als Duett nur von Russell (acc-g) und Phil Peskett (key) eingespielt, hat diesen zarten, sauberen und wie im großen Raum klingenden ECM-Sound, dazu melancholisch-zurückgenommene Lyrik; jeder Ton ist klar und rein zu vernehmen, dass die Ästhetik des Stückes fast zuviel des Guten ist. Die Melancholie bleibt in den nächsten Tracks erhalten; lange, zarte Töne ziehen sich im Titeltrack dahin, dessen faszinierende Melodie Miles Evans an der Trompete hingebungsvoll übernommen hat. Nach dem Intro wühlt die Band das Thema durch und der Doppelbass von Amy Baldwin scheint die Boxen zum Platzen bringen zu wollen. Was für ein eindrückliches Klangerlebnis! Was für ein grandioser Song! "Goodbye Pork Pie Hat", als einziger Klassiker an Bord der CD, hat zwar etwas vorlautes Keyboardspiel, wirkt aber nicht billig oder kitschig, dank Russells Zurückgenommenheit und der leisen Nostalgie des Stückes. "Prayer to the Sun/The Fashion Police" ist die erste von zwei Gary Husband Kompositionen, nach dem akustischen Intro hört sich der Auftakt wie die Jazz-Version von "Pretty Woman" an, doch bald schon zerfasert sich das Motiv in improvisativem, komplexem Spiel. Die elektrische Gitarre hat Lautstärke und Schneid, Husband rockt hart und differenziert, Mo Fosters elektrischer Bass macht rhythmisches Volumen - perfekt! Gleich darauf spielt Ray Russell solistisch die Mo Foster Komposition "So Far Away", wieder ein ganz leises, zurückgenommenes Klangbad in ECM-Art. Damit Jazzrock die zarten Klanglandschaften überwiegt, haben die 8 Tracks einen Bonus bekommen, dessen 8-minütiger elektrischer Jazzrock noch einmal abstrakt ausholt. Die komplexe Bassarbeit von Anthony Jackson am Kontrabass, gekoppelt mit den Keyboardspuren von Tony Hymas erzeugen ein extrem spannendes, nervöses Netz, auf dem das komplexe Schlagzeugspiel von Simon Phillips und die erst sphärischen, dann schrägen Gitarrenexplosionen von Ray Russell eindrucksvoll wild und frei zum Ausdruck kommen. Altersweise vielleicht, aber müde? Gewiss nicht!

Volkmar Mantei



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