CD Kritik Progressive Newsletter Nr.50 (12/2004)

Alfredo Carrion - Los andares del alquimista
(32:46, Fonomusic, 1976)

Das schöne an "unserer" Musikrichtung ist, dass man immer wieder auf mehr oder weniger exotische Perlen stößt, auf Künstler, von denen man noch nie etwas gehört hat und die nach einem bemerkenswerten Album wieder in der Versenkung verschwunden sind. So auch Alfredo Carrion, ein klassisch ausgebildeter spanischer Dirigent und Arrangeur, der in der Prog-Welt allenfalls als Chor-Arrangeur auf dem legendären Klassikrock-Album "Ciclos" von Los Canarios Spuren hinterlassen hat. Alfredo Carrion tritt auf "Los andares del alquimista" (etwa: "Die Gangart des Alchemisten"), das wiederum Teddy Bautista von Los Canarios produziert hat, lediglich als Komponist und Arrangeur in Erscheinung. Und lässt dabei ein ganzes (Rock-)Orchester aufspielen: neben den rocküblichen Instrumenten etwa Streich- und Blasinstrumente, Flöten, Akustikgitarren sowie Mellotron und Synthesizer. Hinzu kommt noch eine klassisch trainierte Sängerin sowie ein gemischter Chor. Stilistisch zerfällt das Album in zwei Teile, ach ja, die gute alte LP hatte schon auch ihre Vorteile. "Seite 1" besteht aus 4 Stücken, die auf populäre Themen zurückgehen, klassisch instrumentiert und mit rockigen Rhythmen gespielt. Nur 4 Stücke, mit jeweils nur ca. 4 Minuten Laufzeit, aber, Freunde, was für Stücke! Was für Melodien! Was für eine zauberhafte Sängerin! In einem Stück wie "Tensa Memoria" (etwa: "Gespannte Erinnerung") steckt die ganze sehnsuchtsvolle Melancholie eines mediterranen Spätsommerabends, so kunstvoll und ungeheuer geschmackvoll arrangiert, dass man nur so mit der Zunge schnalzen möchte! Und wer bei den vollendet harmonischen Chorstellen von "Vino del silencio" nicht dahinschmilzt hat wahrscheinlich ein Herz aus Stein. Etwas verstörend dagegen das letzte kürzere Stück "Romance": verzerrte Mellotron- sowie Synthesizerklänge und eine einsam klagende Stimme marschieren eher in Richtung der italienischen Avantgarde-Truppe Opus Avantra. Ganz andere Seiten werden dann im gut 16minütigen Titelstück angeschlagen: die ersten 5 Minuten gehören dem Orchester, das ohne Rockbegleitung Symphonisches im spätromantischen Stil mit Anklängen an Ravel ("Bolero") intoniert. Unvermittelt geht es dann mit treibendem Schlagzeug, Bass, Piano und Sänger rockig weiter, in die Melodien werden nach und nach kunstvoll weitere Instrumente wie Flöte, Saxophon, Marimbaphon und Orgel eingeflochten. Den letzten Abschnitt beginnt der Chor mit einem gregorianischen Choral in lateinischer Sprache, dessen Melodie bis zum pompösen Grande Finale beibehalten wird - für meinen Geschmack leider eine etwas langatmige Wiederholung. Die poetischen Texte aller Stücke sind sehr versponnen und rätselhaft, evtl. hat Carrion hier auch auf Texte spanischer Lyriker zurückgegriffen. Lassen wir zum Schluss noch den Meister selber zu Wort kommen; im Hüllentext der CD schreibt er: "Meine Musik ist genuin spanisch, wegen der Harmonie, den Kadenzen und der melodischen Wendungen der meisten Themen. Gleichwohl ist es nicht die gemeinhin übliche spanische Musik, ja nicht einmal die bekannteste..." Für mich ist es jedenfalls - neben "Ciclos" von Los Canarios - das Beste, was ich je aus Spanien gehört habe. GM

© Progressive Newsletter 2004