CD Kritik Progressive Newsletter Nr.47 (02/2004)
John Cale - Hobo sapiens
(60:11, EMI, 2003)
Dass man mit fast 62 noch längst nicht den Zenit seines kreativen Schaffens überschritten hat, beweist uns John Cale mit seinem aktuellen Werk "Hobo sapiens". Mittlerweile bei EMI unter Vertrag, zeigt Cale dem äußerst positiv überraschten Hörer, wie man sich auch im Alter immer noch musikalisch weiterentwickeln kann. Diese CD fesselt mich. Seit 6 Wochen läuft sie ununterbrochen bei mir im Auto. Und es sind weniger einzelne Songs oder bestimmte Parts in den Stücken die so herausragend sind. Es ist vielmehr der Gesamteindruck der CD. Cales Stimme ist sicherlich gewöhnungsbedürftig, allerdings zugegebenermaßen auch einzigartig. Wenn man sich also nun nicht vom teilweise etwas spröden Gesang abschrecken lässt, offenbart sich dem Hörer ein kleines Meisterwerk zeitgenössischer, avantgardistischer Popmusik ohne Abnutzungserscheinungen. Mit "Zen" eröffnet ein monotones Klanggebilde die CD. Eine Art Echolot macht den Anfang, kurz darauf folgen die Drums, ein relaxter grooviger Bassloop gibt dem Ganzen etwas Ambientfeeling. Dann setzt der Gesang ein. Der Beat ändert sich im Song nicht mehr. Vielmehr pausiert mal ein Instrument. Effekte, weibliche Backing Vocals, interessante Synthiesounds bieten genug Abwechslung. "Reading my mind" ist ein gute Laune Song, der Bass erinnert ein wenig an die Talking Heads, ein Stück zum Mitsingen, wieder mit sehr interessantem Background und recht witzigen italienischen Sprachsamples, zwischendurch wird es sogar leicht symphonisch. "Things" wurde meines Wissens nach als Single ausgekoppelt. Ein sehr simpler und fröhlich klingender Song, der sofort ins Ohr geht und mit sehr wenigen Akkorden auskommt. Der Text ist "natürlich" das krasse Gegenteil zur Musik. "Elsewhere in the temple the Hamas are gearing up, to assault Tiger Mountain when the sun comes up.......Keep your gun in your pocket and your tongue in your mouth and you'll be doing it - the thing you do in Denver when you're dead". "Look horizon" konnte mich bereits direkt beim ersten Durchlauf packen, atmosphärisch, wieder ein sehr interessanter Basslauf, dazu passender Gesang, eine ruhige irgendwie leicht paranoide Keyboardmelodie setzt ein, der Refrain wird ebenfalls durch einen treibenden Bass und einer Italo-Western-Melodie bestimmt. In diesem Stück greift Cale auch mal wieder zur Viola. "Magritte" ist der nächste Höhepunkt, vielleicht DER Anspieltipp, und beginnt wieder mit einem netten Beat, Cello und Keyboards folgen, ein melancholisches Soundgebilde mit leicht dramatischer Viola und schönen Rhodes ähnlichen Keyboardsounds. Dazu kommen wie fast in jedem Stück viele weitere Effekte, ohne das es überladen wirkt. Klasse! "Archimedes" ist ebenfalls ein melancholischer, jedoch recht groovender Song, der in seinem Verlauf interessante Wendungen nimmt. Wenn man meint, das Teil mitsingen zu können, kommt etwas eher Unerwartetes und trotzdem Stimmiges. "Bicycle" ist quasi das einzige Instrumental und enthält nur ein Dupdururu von Cale. Der Song besteht (wieder einmal) aus einem markigem Bass, der hier ein wenig an Porcupine Tree erinnert. Hinzu gesellen sich Spacesounds und weibliche Stimmen (das sind übrigens die Töchter von Brian Eno, die ihn hier auf seiner Radtour begleiten). "Twilight zone gehört wieder zu den eingängigeren Werken der CD und macht einfach Spaß, wobei musikalisch anspruchsvoller als z.B. "Things". Things X ist die "very advanced version" von eben diesem "Things". Gleicher Text, jedoch völlig andere Komposition, eben ziemlich avantgardistisch abgefahren und David Byrne klopft an der Tür.. Den Abschluss bildet "Over her head", eigentlich der einzige Cale Song, der typisch nach Cale klingt. Zumindest so, wie ich ihn bisher gekannt habe. Ruhig, bestimmt von Gesang und Piano. Das gilt aber dann auch wieder nur für 3/4 des Stückes, denn in der letzten Minute bekommt man einen Part à la Porcupine Tree meets VDGG. Cale veredelt seine durchaus strukturell gut nachvollziehbaren Songs mit jeder Menge moderner Sounds, Samples und Loops. Jeder Ton sitzt an der richtigen Stelle, jeder Effekt scheint wohlüberlegt. Den Punktabzug gibt es für das etwas zu lang geratene und ein wenig an Gabriel erinnernde "Caravan" und das doch wirklich auch für mich zwar interessante, dennoch aber etwas zu avantgardistisch anmutende "Letter from abroad", eher eine Art Sprechgesang von einem scheinbar zugekokstem Cale. Ansonsten habe ich nichts auszusetzen. Wer der Musik von mehr oder weniger exzentrischen Persönlichkeiten wie Robert Fripp, Brian Eno, Peter Hammill, Peter Gabriel, David Byrne nicht unbedingt abgeneigt ist, der muss hier einfach mal ein Ohr riskieren. Meine CD des Jahres 2003! Und dafür gibt es von mir dann auch provokante 14 Punkte.
Jürgen Durau
© Progressive Newsletter 2004