CD Kritik Progressive Newsletter Nr.47 (02/2004)
Hoppy Kamiyama - Psychedelic Kabuki - Gessyoku
(53:52, MGCD-1002, 1994)
Hoppy Kamiyama entzieht sich herkömmlichen Beschreibungen. Nicht nur, dass er als Musiker die unterschiedlichsten Felder bearbeitet (mitunter alles auf einmal, in einer Produktion), sein Interessengebiet ist überhaupt sehr weit gespannt. So narrt er, als Transvestit verkleidet, seine Fans, sein Publikum. Es ist nicht leicht, in seine Welt, seine Vorstellungen einzubrechen, nachzuvollziehen, warum er tut, was er tut, und warum er es genau so tut. Aber alles ist komponiert, sein ganzes Leben, seine Erscheinung, sein Auftreten. Nichts überlässt Hoppy Kamiyama dem Zufall, alles ist Show. Umso verblüffender, dass seine Inszenierungen nicht in der Popglitter-Welt stattfinden, wo doch alles danach aussieht. Musikalisch geht Hoppy an Grenzen, vor denen selbst Avantgarde-Musiker zurückschrecken. "Psychedelic Kabuki -Gessyoku" ist ein solches Teil. Obwohl noch längst nicht die avantgardistische Härteprüfung, tobt in den Stücken dieses 1994 aufgeführten Werkes, zu dem Hoppy die Musik schrieb, ein Wechselspiel, das sich stilistisch in den unterschiedlichsten Bereichen bedient und die ursprüngliche musikalische Vorlage torpediert, zerstückelt und verballhornt. Psychedelic Pop, metallische Gitarren, Free Jazz, japanischer Schlager, Höyry-Kone-mäßige Gesänge, bayrische Blasmusik, brachiale Progressive Rock-Attacken, da geht ineinander über, was nirgends sonst in der Form geht. Ohne Rücksicht auf Verluste, mit Spaß und gewaltigem Humor wird hier eine quirlige Musik, ein experimentelles Gefüge geschaffen, dass vielleicht in der ersten Sekunde wie Vorschlaghammer auf Schädel klingt, dann aber fesselt, dass man nicht mehr davon loskommt. Das ganze ist sehr flott und forsch, rast dahin, das es eine Freude ist. Hat eben noch ein Jazzrock-Motiv soliert, bricht plötzlich bayrisches Gejodel aus, gefolgt von Cajun, der in John-Zorn-typische Destruktionen auswächst. Dazu braucht Hoppy keine 20 Sekunden und die CD ist über 53 Minuten lang! Die Überraschungsfülle ist so hoch, dass im Laufe des Albums nichts mehr schockiert. Das (kommerzielle!) Werk hat große Erfolge gefeiert, wie das funktionieren konnte, ist mir schleierhaft. Entweder mögen die Japaner die wildesten Verquickungen und haben keine Angst vor nix oder aber der Soundtrack wurde viel zu leise abgespielt. Trotz aller Schrägheiten ist die Musik sehr humorvoll, hat geradezu lustige Momente und reißt unglaublich mit. Wer deutschen Marsch als Mitsinge-Popsong mag, in dem japanische Saitenakkorde als Höhepunkt erklingen, ist hier richtig und kann sich entspannt zurücklehnen. Wer das nicht mag, wird verblüfft sein, wie es funktioniert. Selbst die gewöhnungsbedürftigen Schlagerfetzen, die schon mal größere Fetzen sein können, werden durch symphonischen Bombast, Freejazz-Einlagen oder hübsche Melodien abgefedert. Nicht zu vergessen der russische Männerchor, der mit Metal-Gitarre und flottem Rhythmus jeden Krieg gewinnen wird. Wer bei diesen Songs nicht neugierig wird, wird nirgends neugierig oder mag keine Musik. Anders gesagt: wer gern Eisbader sein will, aber im entscheidenden Augenblick den Rückzieher macht, braucht nur ein paar Sequenzen dieser Songs und wird anschließend einen vergnügten Kopfsprung machen. Vielleicht könnte die Musik auch als Herzschrittmacher funktionieren, möglicherweise Tote aufwecken. Eines jedoch ist gewiss: langweilen wird sie nicht. Manche werden sich mit Entsetzen abwenden, andere Kult brüllen. Hauptsache, ihr hört euch das Teil an! Hoher Spaß- und Anarchie-Faktor garantiert! Und nicht mal auf Marimba braucht ihr zu verzichten...
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2004