CD Kritik Progressive Newsletter Nr.41 (09/2002)
Pierre Vervloesem - Grosso Modo
(53.49, Carbon 7, 2002)
Bei den meisten Bands dauert es Wochen, Monate oder gar Jahre, bis ein Album fertig ist. Pierre Vervloesem (g, bs) hat sich exklusive Mitstreiter gesucht und mit ihnen keine zwei Tage gebraucht, die 9 instrumentalen Stücke einzuspielen. Peter Vandenberghe (keyb, X-Legged Sally, A Group, Flat Earth Society), Guy Segers (Univers Zero, Art Zoyd, Present, The Rascal Reporters, Doctor Nerve), Charles Hayward (dr, Quiet Sun, This Heat, Camberwell Now, Accidents & Emergencies, Massacre) und Peter Vermeersch (cl, bs-cl, X-Legged Sally, Flat Earth Society, A Group) sind ein ausgezeichnetes Line-Up, das spielerisch mit der von Vervloesem vorgegebenen Intention klar gekommen ist: sich soweit von allen Vorstellungen zu entfernen, dass neuartige Töne in die Songs strömen. Die ausgezeichneten Kompositionen sind der Grundstock, auf der Soli und Improvisationen avantgardistisch bis atonal agieren, die in Progressive Rock, Alternative und Jazzrock fußen. Es gibt auf "Grosso Modo" keine typischen Töne zu hören. Doch trotz des deutlichen improvisativen Charakters sind die Kompositionen nicht plattgemacht. Es herrscht kein simples Jammen vor, noch sind ständig komplexe Parts zu hören. Vielmehr laufen überkomplexe Passagen in schlichte Momente, die entweder nachvollziehbar grooven oder seltsam plärren. Da können gar ambiente Töne aufkommen, wie sie Fred Frith' Massacre auf den letzten beiden Alben spielte. Ein schweres, hartes, dabei sehr präzise und komponiert klingendes, verflixt komplexes Liedgut. Gerade die Gitarrensoli gehen oftmals schon in harsche Lärmtöne über, von einem Keyboard begleitet, das keine Grenzen scheut. Doch in all den tonalen und freitonalen Überraschungen bleibt der melodische Anteil bestimmend. Selbst wenn die Band schwer harte Passagen fährt, die an King Crimson (um 1973) erinnern. Die Motive verändern die Songs, allein die Rhythmuswechsel sind von einer ausdauernden Stetigkeit, das man meint, Charles Hayward sei ein Ausbund an Fleisch gewordener rhythmischer Freiheit. Ebenso beeindruckend arbeitet Bassist Guy Segers, der nicht nur für rhythmische Ruhe sorgt, sondern selbst solistisch ausbricht. Doch Star ist eindeutig Pierre Vervloesem, der mit seiner Gitarre eine unglaubliche Menge Ideen abfeuert, ständig improvisiert und mit sehr eigenem, freitonalem Spiel bestimmt. Die Band passt bestens zueinander, die Musiker "denken" in der selben avantgardistischen Art. Pierre Vervloesems Alben waren noch nie leicht, doch so melancholisch bis depressiv hat noch keines zuvor geklungen. Eine bleierne Düsternis bestimmt viele Momente, die selbst in den hart rockenden Passagen nicht weichen will. So wirkt "Grosso Modo" gefährlich wie ein Panther vor dem Sprung. Hin und wieder jedoch greifen humoristische Motive in die Songs. Ein urgewaltig hartes Moment wird von quäkiger Gitarre unvermittelt abgebrochen und ein melodisches Motiv verändert die Stimmung. Plötzlich scheint der Song beschwingt und heiter, von einer harmonischen Leichtigkeit, die ansteckend wirkt. Das Magnum Opus "Nobodyïs listening anyway" als abschließendes Stück vereint alle Momente der vorherigen Songs noch einmal in sich: jazzige Passagen, Free Rock, wild und frei sich entfaltende Gitarrensoli, humoristische Keyboardattacken und rasante Härte im Wechsel mit spartanischer Epik. Nie war ein Vervloesem-Album so gut gelungen - und alle Alben sind sehr gut. "Grosso Modo" ist ein Meilenstein der Rockmusik. Ein betörendes Highlight, dem man sich schwer verschließen kann. Ein unbedingtes Muss. Pierre Vervloesem ist neben Mike Keneally der beste Rock-Gitarrist heutiger Tage. Danke für dieses Album!
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2002