CD Kritik Progressive Newsletter Nr.36 (07/2001)
Picchio Dal Pozzo - Picchio Dal Pozzo
(39:55, Vinyl Magic, 1976, Re- Release 1999)
Canterbury liegt in Italien. Ja, doch, ehrlich, gleich hinter Genua muss es liegen. Wer nun an meinem geographischem Verstand zweifelt, der möchte doch bitte einmal sich das Debütalbum der Genueser Formation Picchio Dal Pozzo (etwa "Specht aus dem Brunnen" (!)) lauschen. Schon die ersten Takte identifiziert man sofort mit jener Art von Musik, für die Canterbury berühmt geworden ist. Freilich ist Picchio Dal Pozzo kein weiterer Spin-Off der legendären Wilde Flowers, aus dessen Konkursmasse sich ja bekanntermaßen rund ein halbes Dutzend der einflussreichsten und bedeutendsten Canterbury-Bands, allen voran Soft Machine und Caravan bildeten - Picchio Dal Pozzo ist vielmehr die erstaunliche musikalische Läuterung des New Trolls Tastenmanns Aldo De Scalzi, der sich bei eben diesen nicht immer mit (progressivem) Ruhm bekleckerte. Anders bei Picchio Dal Pozzo, das übrigens einem gewissen "Roberto Viatti" gewidmet ist (was natürlich eine italienische Verballhornung von Robert Wyatt ist). Fernab von jeglichen kommerziellen Zugeständnissen, entwickelt De Scalzi, zusammen mit seinen Mitstreitern (unter anderen auch seinem Bruder & New Trolls-Mittäter Vittorio an der Flöte) kompromisslosen Canterbury, irgendwo im Grenzgebiet zwischen Rock, Prog und Jazz. Erstaunlich ist hierbei nicht die Genauigkeit, in der die Italiener die englischen Vorgaben imitieren können, erstaunlich ist, dass sich der italienische Prog Mitte der 70er immer mehr von seinen eigenen, spezifisch italienischen Wurzeln entfernte und nun Strömungen aufnahm, denen er sich vorher weitgehend entzogen hatte. Das Album selbst kann man als weitgehend gelungen betrachten. Keiner wird bei einem Canterbury-Album substanziell etwas neuartiges erwarten können. Es liegt dann schon im Auge des Betrachters, pardon, im Ohr des Hörers, ob man mit den vorliegenden Improvisationen und Modulationen etwas anfangen kann, bemerkenswert sind die Nonsens-Texte, die immer wieder in die hauptsächlich instrumentalen Kompositionen eingestreut werden und den typischen Canterbury-Verfremdungseffekt noch steigern können, recht originell sind die zum Teil 4-stimmigen Chöre, die etwa auf "La floricoltura di Tschincinnata" ("die Blumenkoltur (sic!) aus Tschincinnata (Cincinnati ?!)" (sic!!)) mit viel Humor den Wohlklang kirchlicher Kanongesänge mit schrägen Jazz-Elementen koppeln. Das Debütalbum Picchio Dal Pozzo kann man bedenkenlos allen Canterbury-Fans empfehlen. Wer allerdings spezifischen Italo-Prog erwartet, der wird von dem Album enttäuscht sein. Paradoxerweise ist Picchio Dal Pozzo dennoch ein Beweis für die Ausnahmestellung der italienischen Szene in den 70ern.
Sal Pichireddu
© Progressive Newsletter 2001