CD Kritik Progressive Newsletter Nr.36 (07/2001)

Area - Maledetti (maudits)
(42:18, EMI, 1976)

Die italienische Formation Area ist eines der interessantesten, aber bestimmt auch eines der schwer zugänglichsten Kapitel der italienischen Szene der 70er Jahre. Derweil sich andere Bands in der zweiten Hälfte der 70er Jahre nach und nach dem Mainstream anglichen (PFM, Banco, Le Orme usw.), ging Area den umgekehrten Weg - mit jedem Album entfernten sie sich von den eigentlichen Hörgewohnheiten ihres Publikums, bewusst in Kauf nehmend, dass sie sie damit vor dem Kopf stießen. Unbeirrt ging die Band um den charismatischen Ausnahmevokalisten Demetrio Stratos ihren Weg, der sich an den künstlerischen Ambitionen, weniger an den Erwartungen des Publikums orientierte. Das fünfte Album "Maledetti" (Verdammte) ist ein Wendepunkt in der Discografie der Formation. Um das ambitionierte musikalische Konzept zu verwirklichen, erweitert sich das Quintett um den Saxophonisten Steve Lacy, den Percussionisten Paul Lytton, ein Streichquartett, diverse archaische Blas- und Perkussionsinstrumente, ja selbst ein batteriebetriebener Rasierer (!) kommt zum Einsatz. Das Ergebnis ist so radikal neu, dass es regelrechte Tumulte bei der Live-Präsentation des Material gab. Das Album eröffnet mit dem fast surrealistisch vorgetragenem Gedicht "Evaporazione" (Verdampfung) und geht dann in das jazzrockige / fusionmäßige "Diforisma urbana" (urbaner Diforismus - was auch immer heißen mag) über. Ein Hauch von Mahavishnu Orchestra oder vielleicht auch Todd Rundgren's Utopia scheint durch diese Musik durchzuschimmern - die ausgedehnten Soloparts werden geradezu orgiastisch vorgetragen. Orientalisch eröffnet "Gerontocrazia" (wieder ein Wortspiel, etwa: die Herrschaft der Alten) mit dem irrsinnig arabesque verziertem Sprechgesang Stratos, die Band beantwortet den Text (erneut) mit ekstatisch vorgetragener Fusionmusik. "Scum" (Abschaum) greift einen radikal feministischen Text von Valerie Solanas auf, der die Vernichtung des männlichen Geschlechts als (einzig mögliche) Überwindung des patriarchalisch-kapitalistischen Systems propagiert. Starker Tobak. Starker Tobak auch die Musik - fast schon Freejazz was uns da geboten wird. Im krassen Gegensatz dazu "Il massacro di Brandenburgo numero tre", eine etwas schräge, bitter bös ironische Version des Eröffnungssatzes des 3. Brandenburger Konzerts von J.S. Bach (deshalb Das Branderburger Massaker Nr. 3). Der (Pseudo-) Ringelreim "Giro, giro tondo" dient als eine Art Ouvertüre (hauptsächlich in Fusion gehalten) für das extremste Stück des Albums, das Finale "Caos - parte seconda" (also Chaos, Teil 2). Dazu bedarf es einiger erklärender Worte zur Entstehungsgeschichte: Während der Area-Konzerte im Sommer 1976, experimentierte die Band mit einer Art radikaler Auseinandersetzung mit der (sich stets verändernden) Realität - durch entsprechende Sensoren wurde die vom Publikum ausgestrahlte Wärme in einer thermodynamischen Kopplung an zwei Oszillatoren des Synthesizers angeschlossen. Die so entstandenen Klänge wurden von der Band durch "Echtzeit- Improvisationen" aufgegriffen. Es entstand (auf jedem Konzert freilich anders) "Caos - prima parte". Bei "Caos - parte seconda" versucht die Band nun ein Konzept der zufälligen Improvisation. Auf kleinen Zettel werden verschiedene Gemütszustände (von Sexualität über Freude, Gewalt, Hypnose bis hin zu Formen der Stille) notiert - insgesamt 31. Jeder Musiker zieht nun 6 zufällig aus dem Topf und versucht diesen innerhalb von 90 Sekunden improvisierend darzustellen, dann wird der nächste gewählt. Es entsteht ein "geordnetes Chaos", ein Konzept, dass die (thematische eingegrenzte) Zufälligkeit dem gängigen Konzept von Improvisation entgegensetzt. Der Musiker ist nun nicht mehr durch das Spiel der anderer Musiker gebunden, sondern durch die gestellte "Aufgabe", seine Improvisation ist nun in der Tat frei. Und genau diese Freiheit steht im Mittelpunkt des Stücks. Demetrio Stratos schreibt dazu in den Linernotes: "Es ist schwer frei zu sein. Die Funktion in "Caos - parte seconda" ist also eine befreiende, es geht nicht darum, etwas zu zeigen oder zu lehren, es wird versucht, die Unterschiede zwischen Musik und Leben aufzuheben (...)". Das radikale Konzept Areas isolierte die Band von den Entwicklungen in der Musikszene, eine sicherlich gewollte Entwicklung. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass Area kaum Mitstreiter oder Nachahmer fand. Was bleibt ist der mutige, allerdings sehr schwer zu erschließende Versuch einer radikalen Neuinterpretation von Musik, Kunst und Interaktion. So gesehen waren Area ihrer Zeit weit voraus, ihrer Zeit und auch dem Prog, der sich nie auf solch ein dünnes Eis begeben hat. Areas "Maledetti" ist alles andere als eine heiße Empfehlung für den üblichen Proghead. Wer allerdings mit den freien Formen des Jazz gelernt hat umzugehen, der wird in Area eine faszinierende und wahrlich innovative Band entdecken können.

Sal Pichireddu



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