CD Kritik Progressive Newsletter Nr.26 (07/1999)

P.O.N. - P.O.N.
(45:48, Doubletrap 1995)

Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir, die wir uns "Proggies" und nicht etwa Rocker nennen, auch überhaupt keine Rocker sind. Dazu sind wir viel zu erhaben. Wir tragen korrekte Haarschnitte, bürgerliche Klamotten und sehen aus, wie jeder Schlackerfan. Und wir haben einen Anspruch an unsere Bands, der es ihnen verbietet, sich zu entwickeln, sich auszuleben und musikalische Grenzen zu erschöpfen (siehe die Diskussionen um die langweiligen Popbands Genesis und Marillion). Was einst die Idee des Progressive Rock war: Grenzen zu überspringen, weit über simple Tonalität hinaus Musik, Werke, Orgien zu entwickeln, ist längst gezähmt und in harmonische, melodische, bombastische und überschaubare Kanäle geleitet worden. Und das wollen wir anscheinend immer wieder. 10minütige Songs, die vor allem jede Menge Keys, hier und da Gitarrensoli und engelhafte Stimmen aufweisen. Wir selbst sind in den Kanälen versackt. Es gibt keine Kultur um unsere Musik, es gibt nur Kult, keinen Gedankenaustausch, nur einsamen Genuss. Wir sind Rocker? Wir sind Spießer! Und die Bands, die doch noch versuchen, uns anzustoßen, uns aus unserer langen Weile voller Sinfonik herauszureißen, die hören wir schon gar nicht mehr. Weil sie - uns zu schräg und laut sind. Welch ein ironisches Dilemma! Nun, da ich jederzeit versucht bin (ich bin eben hoffnungslos veraltet im Kopf und Anspruch), doch noch progressive und grenzenüberspringende Musik zuzulassen, entdecke ich hin und wieder verblüffende Musiker, Platten, Musik, die mein Spießertum niederreißen und mir die alte, neue Welt eröffnen, mit neuen Tönen, weit gelegenen Gebirgen am Rande der Tonalität und des "progressiven" Geschmacks. P.O.N. ist eine dieser Bands. Sie kommen aus Japan und haben dieses eine Album eingespielt, um anschließend in der Versenkung zu verschwinden. Vielleicht haben sie auch ihren musikalischen Ausdruck verändert, zuzutrauen ist es ihnen. Diese 10 "Songs" sind Progressive Rock der Extraklasse. Sehr schräg, weit über Jazzrock hinaus, irgendwo mitten in der Avantgarde musizieren diese 5 Leute (Sax, Noise Machine, Guitars, Percussion, Fretless Bass, Vibraphone [!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!], Drums + Gast (Electric + Acoustic Violin) einen bombastfreien, witzigen, temperamentvollen und angriffslustigen Sound, der schnell unter die Haut geht. Das Zusammenspiel der Instrumente ist unsagbar gelungen, unisono oft das Vibraphone und das Sax, Vibraphone und E-Guitar, Drums + Percussion. Dann wieder spielen sich die abstrakt gebauten Linien die Soli gegenseitig zu. Ganz ohne Stimme kommt dieses Projekt aus und ich habe keinen Zweifel, dass sich die aufgeschlossenen Hörer schnell mit diesen wirklich schrägen Orgien anfreunden werden. Sehr kompromisslos, sozusagen, das Mark des Progressive Rock gefiltert und neu illustriert, sind diese Songs zu hören. Doch ich habe die Befürchtung, dass progressive Hörer unter den Progressiven selten zu finden sind...

Volkmar Mantei



© Progressive Newsletter 1999