CD Kritik Progressive Newsletter Nr.14 (04/1997)
Finisterre Project - Höstonaten
(63:48, Mellow Records, 1997)
Angesichts solch präziser Rezitationen und Neuentdeckung alter Klänge wird ein scheinbar toter Stil exhumiert, erfährt seine Wiederauferstehung und ist hörbar lebendiger denn je. Wie sich beim Finisterre Project aus den Gräbern der progressiven Hochzeit der 70er bedient wird und was daraus gemacht wird, verdient vollste Hochachtung. Dieses Projekt mit Musikern der italienischen Band Finisterre, ergänzt durch weitere Landsmänner, lässt die 70er in weiten Teilen so lebendig werden, wie es seit Änglagård nicht mehr geschafft wurde. Dabei geht es aber nicht so abgedreht und schwerfällig wie bei den schwedischen Kollegen zu Werke, vielmehr wird in langgedehnten Instrumentalpassagen, traumwandlerisch schön und verspielt, dem Zuhörer ein Blick in die lichten Höhen und dämonischen Tiefen der romantischen Seele eröffnet. Sphärische, ruhige Akustikklänge von Gitarre und Flöte werden im genau richtigen Moment dynamisch gesteigert. Mellotron, Synthesizer oder E-Gitarre gipfeln in begeisternden solistischen Ausflügen. Ein Königreich an wunderschönen Melodien, die einen mehr als einmal angenehm erschauern lassen. Vom zentralen epischen Titelsong ist trotz 41(!) Minuten jede Minute sinnvoll. Die Bezeichnung Longsong erfährt hier eine völlig neue Definition. Doch leider gibt es auch auf diesem Tonträger einen offensichtlichen Schwachpunkt. Und was ist das wohl ? Richtig geraten, der Gesang, Zerbrechlich und mit deutlichem Akzent versehen, wird leider auch die schönste Musik so stellenweise abgewertet. Schade, schade - denn instrumental gibt es hier nur vom Allerfeinsten zu hören. Einen Schwachpunkt, den es nur schwerlich zu verschmerzen gilt, denn außer beim Titelsong wird leider nicht genug mit Gesang gegeizt. Nimmt man sich ausgiebig Zeit für dieses epische Meisterwerk, wird man immer wieder vom instrumentalen Inhalt überrascht werden. Mehr als ein Geheimtipp für Freunde angestaubter Klänge. Trotzdem einen unumgänglichen Tipp noch für das nächste Werk: bitte ohne Gesang!
Kristian Selm
© Progressive Newsletter 1997