CD Kritik Progressive Newsletter Nr.13 (03/1997)
Victor- Victor
(50:47, Atlantic, 1996)
Erstaunlicherweise wurde dieses Soloalbum in Veröffentlichungen der Prog-Szene ziemlich stiefmütterlich behandelt, obwohl es in normalen Magazinen recht breit besprochen wurde und man es auch in jedem Plattenladen anhören kann. Da diese Musik aber, wenn man die letzte Rush-CD auch noch zum Prog rechnet, eben auch noch dazuzurechnen ist, war es schon Grund genug, sich auf den Hosenboden zu setzen, und loszuhacken. Für alle die, die's noch nicht wissen, bei Victor handelt es sich um das erste Soloalbum von Alex Lifeson, dem genialen Gitarristen von Rush. Da dieser schon vor dem Erscheinen der Scheibe verlauten ließ, es werde sicher anders als Rush klingen (v.a. härter) und Rush selber von Platte zu Platte ja immer mehr zurück zu den Wurzeln gehen, sprich gitarrenlastiger und härter werden, war ich schon auf einiges gefasst. Das erste Lied "Don't care" geht dann auch gleich in diese Richtung, aber so schlecht ist das eigentlich gar nicht. Dominierend ist selbstverständlich Lifesons E-Gitarre, in seinem typischen Stil gespielt, obwohl der im zweiten oder dritten Lied noch deutlicher herauskommt. Ansonsten ist die Musik recht heavy-grungig, mit einem etwas gewöhnungsbedürftigen rauen Sänger. Bass spielt der Meister fast immer selber, die Drums sind "normal", und eher unauffällig. Von diesen Gastmusikern abgesehen, hat Alex sich auch noch Dalbello mit ihrer sehr guten und kräftigen Stimme eingeladen, genauso wie den alten Tour-Bekannten Les Claypool von Primus, die ja beim letzten Deutschlandbesuch von Rush die Vorgruppe abgaben. Lifeson versucht aber so viel wie möglich selbst zu machen, auch die Keyboards gehen zumeist auf sein Konto. "Keyboards ??", fragt sich da entgeistert mancher Leser, der oben was von heavy gelesen hat. Und tatsächlich, es gibt auch Lieder, die einen zutiefst verblüffen und die man nie auf dieser CD vermutet hätte. Dort hört man dann Intros, die komplett elektronisch gehalten sind, sich aus Keyboards und Sequencer zusammensetzen und so zeitweise eine etwas kosmische New Age / Trance-mäßige Stimmung verbreiten. Respekt, Respekt! Alex hat also keine Scheuklappen auf, sondern sieht auch über seinen Gitarrenhals hinaus. "At the end" beispielsweise fängt so an und geht später in sein Gitarrenspiel über. Noch krasseres Beispiel ist "Victor", wo er in sechs Minuten zu elektronischen Sequencerklängen ein Gedicht von W.H. Auden aufsagt. Keine Gitarre, kein Geschrubbe, dafür setzt Richtung Ende ein Saxophon ein. Das ist echt mal was ganz anderes. Als kleine ironische Liebeserklärung an seine Frau Charlene, die er im Jahr wohl mehrere Monate zu Hause zurücklassen dürfte, ist "Shut up shuttin' up" gedacht. Zusammen mit Esther, wer immer das auch ist, lästert sie im Rahmen eines offenen Gesprächs unter Frauen über seine negativen, typisch männlichen Gewohnheiten und Macken ab (Klodeckel auflassen, Haare im Waschbecken...), während im Hintergrund Ehemann Alex das bluesige Grundgerüst liefert. Insgesamt gesehen überwiegen aber dennoch klar die harten Lieder, in denen er es richtig krachen lässt. Besonders "Start today"mit Sängerin Dalbello gefällt mir sehr gut, und ist ein gutes Beispiel dafür. Wer also Rush-Musik unter anderem Namen erwartet hat, liegt falsch. Obwohl Rush wie gesagt immer härter und straighter werden, geht's hier doch heftiger zur Sache. Es gibt hier schließlich keinen Geddy Lee mit seiner feinen, hohen Stimme und auch keinen Neil Peart mit seinem komplexen Schlagzeugstil. Aber gerade im Vergleich mit der (jedenfalls für mich, als alten Rush Fan) enttäuschenden neuen Rush-CD, zeigt Lifesons Soloalbum seine Vorzüge. Es ist eigenständig, und abwechslungsreicher als man erwartete - einfach gut. Aber mit Prog haben beide Scheiben meiner Meinung nach kaum mehr was zu tun.
El Supremo
© Progressive Newsletter 1997