Leprous - An Evening Of Atonement

Leprous - An Evening Of Atonement (InsideOut Music/Sony Music; 24.10.2024)
Credit: Ritxi Ostáriz

Progressive Metal • Avantgarde • Art Rock
(2:06:32; Vinyl (3LP), 2CD+Blu-ray, Digital; InsideOut Music/Sony Music; 24.10.2024)
Leprous waren in den letzten Jahren – sagen wir’s, wie’s ist – omnipräsent. Ob man wollte oder nicht, an den Norwegern kam man als Prog-Fan schlicht nicht vorbei. Neue Studioalben im Zweijahrestakt, endlose Tourneen, Festivalauftritte zwischen Wacken und Night of the Prog – und zwischendurch immer wieder Special Shows, bei denen alte Alben in Gänze aufgeführt oder ganze Diskografien chronologisch durchgespielt wurden. Manchmal fragte man sich schon: Leprous? Echt jetzt? Schon wieder?

Und trotzdem – langweilig wurde es nie. Denn Einar Solberg und seine Mannen verstanden es, jedes Mal eine andere Facette ihrer Musik auf die Bühne zu bringen. Auch, wenn sich langsam eine gewisse Übersättigung einstellte, war klar: Wenn Leprous ein „Abendfüllendes Konzert In Zwei Akten“ ankündigen, sollte man vielleicht doch wieder hingehen.

So wurde aus der Tour „An Exclusive Evening With Leprous“ genau das, was der Name versprach: ein exklusives Erlebnis auf höchstem Niveau. Zwei Sets, zwei Stimmungen, eine Band, die nach all den Jahren nichts von ihrer Intensität verloren hat. Wer im Frühjahr 2025 live dabei war, weiß, was ich meine.

Für alle anderen gibt es nun den Mitschnitt „An Evening Of Atonement“, aufgenommen am 7. Februar 2025 im legendären Poppodium 013 in Tilburg. 15 Jahre nach ihrem ersten Auftritt dort – damals noch als Support-Act – kehren Leprous als Headliner zurück, mit großem Besteck, Kamerateam und einer Produktion, die in dieser Form selbst für sie ein neues Level markiert.

Akt I: Präzision und Kontrolle

Der erste Akt ist Leprous in Reinform. ‚Silently Walking Alone‘ eröffnet mit jener Mischung aus kontrollierter Energie und emotionaler Explosion, die inzwischen fast zum Markenzeichen geworden ist. ‚The Price‘ erinnert daran, woher sie kommen, ‚I Hear The Sirens‘ zeigt, wohin sie längst unterwegs sind.

‚Forced Entry‘ – noch immer eine Naturgewalt – trifft hier auf das fragile ‚Alleviate‘, bevor ‚Distant Bells‘ in seiner epischen Länge einen Kontrapunkt aus Raum, Stille und Pathos setzt. Dass ‚Foe‘ und ‚Nighttime Disguise‘ im selben Set funktionieren, sagt eigentlich alles über die Bandbreite dieser Gruppe.

Wie Kanwal in seinem Bericht zum Kölner Tourstopp treffend schrieb:

Die erste Hälfte des Sets verging wie im Flug.

Genau so wirkt auch der erste Teil dieser Aufnahme – konzentriert, dicht, spannungsgeladen.

Akt II: Emotion, Nähe, Befreiung

Nach einer kurzen Pause öffnet sich der zweite Akt – emotionaler, fließender, intimer. ‚On Hold‘ und ‚Below‘ sind Herzstücke dieses Abschnitts, beide getragen von Solbergs Stimme, die live so unverschämt makellos klingt, dass man unweigerlich denkt: Das kann doch nicht echt sein. Doch, ist es.

Dann kommt ‚Passing‘ – ein Stück Geschichte, das bis ins Debüt „Tall Poppy Syndrome“ zurückreicht. Ein Gruß an die Frühzeit, an die Growls und Gitarrenwände, die nie ganz verschwunden sind.

Es folgen ‚Faceless‘ mit seinem kollektiven Chorgesang – das Publikum als Teil der Band – und ‚From The Flame‘, das in Köln gleich zweimal gespielt werden musste, hier aber auf Anhieb sitzt.

Zum Finale ‚Atonement‘ und das unvermeidliche ‚The Sky Is Red‘ – zwei Songs, die Leprous’ Gegenwart und Vergangenheit miteinander verschmelzen lassen. Emotional, aufgeladen, kathartisch.

Was mich besonders beeindruckt: die Balance zwischen Perfektion und Lebendigkeit. „An Evening Of Atonement“ klingt nicht wie ein steril nachbearbeitetes Studio-Live-Album, sondern nach einer echten Show – mit Raum, Atem und gelegentlicher Kante. Der Mix ist glasklar, ohne zu klinisch zu wirken. Man spürt die Energie, das Licht, die Bewegungen.

Die Blu-ray-Version ist die Krönung: visuell konzentriert, minimalistisch inszeniert, kein bombastisches Bühnenspektakel, sondern ein ästhetisches Statement. Und im Bonus-Interview zeigen sich Leprous gewohnt reflektiert – irgendwo zwischen analytischer Selbstbeobachtung und stiller Dankbarkeit.

Leprous sind 2025 an einem Punkt angekommen, an dem sie gar nichts mehr beweisen müssten – und tun es trotzdem. „An Evening Of Atonement“ ist keine bloße Live-Veröffentlichung, sondern eine Standortbestimmung. Ein Abend, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieser Band in zwei sorgfältig komponierten Akten verdichtet.

Wer Leprous zuletzt vielleicht schon zu oft gesehen oder gehört hat, bekommt hier den besten Grund, sie wieder neu zu entdecken. Denn dieses Konzert fängt alles ein, was Leprous ausmacht: Präzision und Pathos, Kontrolle und Chaos, Nähe und Distanz.

Für mich eines der beeindruckendsten Live-Dokumente der letzten Jahre – und ein weiteres Kapitel in der anhaltenden Erfolgsgeschichte einer Band, die es trotz (oder gerade wegen) ihrer Dauerpräsenz immer wieder schafft, sich neu zu definieren.

Bewertung: 14/15 Punkten


Leprous - An Evening Of Atonement (InsideOut Music/Sony Music; 24.09.2024)
Credit: Tomasz Gotfryd

Einar Solberg – Vocals
Tor Oddmund Suhrke – Guitar
Robin Ognedal – Guitar
Baard Kolstad – Drums
Simen Børven – bass

Gastmusiker:
Harrison White – Keyboards

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Alle Abbildungen wurden uns freundlicherweise von Oktober Promotion zur Verfügung gestellt.