Magnetic Ghost Orchestra - Holding On To Wonder
Jazz • Big Band • Avantpop • Progressive Jazz
(48:05; Digital, Vinyl, CD; Fun In The Church; 26.09.2025)
Wir sollten wieder mehr Briefe schreiben! Mit persönlichen Worten, Gefühlen und Stimmungen, genauso wie auf diesem mitreißenden Album.
Der Briefwechsel zweier Künstlerinnen bildet das Framework dieses Werkes. Auf Wunsch von Moritz Sembritzki, der als Vorgabe lediglich eine Geschichte über zwei Frauen mit gegensätzlichen Persönlichkeiten wünschte, erschuf die Librettistin Alexia Peniguel die junge Schriftstellerin Pen und als Gegenpart Bee eine ältere Malerin. Die Beiden tauschen sich in ihren Briefen über Konflikte, Schaffensprozesse und Selbstreflektionen aus, stellen Fragen, geben Anregungen und lassen doch genug Raum, um eigene Gedanken nicht zu ersticken. Jeder Brief, wunderschön vorgelesen von Alexia Peniguel selbst und der Sängerin/Songwriterin Sera Kalo, gibt ein Thema vor, das anschließend musikalisch interpretiert beziehungsweise ausgearbeitet wird. Die beiden Frauen werden repräsentiert durch zwei Sängerinnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Da ist Meryem Kiliç mit ihrem ruhigen Jazzalto im Dialog oder auch im Duett mit Aylin Winzenburg und ihrem zum Teil herrlich dramatischen Opernsopran.
Die Big Band von Moritz Sembritzki zelebriert die Kompositionen von Selbigem grandios. Das hier ist modern und doch vertraut, schräg und doch angenehm, emotional aber nicht überladen. Auch nach dem zehnten Hören findet das Ohr noch Passagen, die es zu entdecken gilt. Immer wieder neu. Im Kontext zum Emotionsthema, im Arrangement oder in der Konstellation zu anderen musikalischen Themen. Es gibt hinreißende Soli, überraschende Bläsereinwürfe, die in Dynamik und Interpretation vertraut und doch neu klingen und dann dazu noch vereinzelte elektronische Elemente, die das Ganze unmerklich vereinen. Hier ist nichts angestaubt oder traditionell. Hier findet Kopfkino auf ganz hohem Niveau statt. Die Musik vereint sich mit einem Dialog, greift Emotionen auf, spiegelt Handlungen (so z.B. das Verbrennen eines Bildes) oder auch den Herzschlag und lässt den Hörer nachempfinden, wie Wut riecht und schmeckt.
Es gibt Alben, die beim ersten Hören schon erahnen lassen, dass hier etwas ganz Großes entstanden ist. Die beim fünften Hören noch immer spannend sind und die beim zehnten, hochkonzentrierten Lauschen den Hörer noch immer Dinge entdecken lassen. Die Verschmelzung von Musik und Sprache, von musikalischen Bildern, von komponierten Emotionen, bis hin zu einer kompletten, spannenden Story ergreifend dargeboten und interpretiert von dieser Big Band, das ist pures Glück oder auch ein Wunder.
„Teapot of the Week“ auf Betreutes Proggen in der KW39/2025
Oder wie Johannes von Weizsäcker in seiner Albumbesprechung sehr treffend schreibt:
Auf „Holding On To Wonder“ korrespondiert zeitgenössischer Jazz mit 70er-Krimiserien-Soundtrack, Saxofon-Cluster mit Opernkoloratur, atonal mit sehr tonal, Bernstein mit Post-Punk, Duke Ellington mit Kraftwerk, irres Geschwirre mit strikter Organisation.
Und wer ist jetzt eigentlich Moritz Sembritzki und dieses Orchester?
Er ist ein 1983 geborener Jazzmusiker, Komponist, Hochschuldozent und Bandleader, der in Berlin lebt und wirkt und Gründer des Magnetic Ghost Orchestra ist. Die erste EP erschien 2021. Das ist die Kurzfassung. Mehr wage ich hier aus Angst des Noch-nicht-Wissens nicht zu schreiben, werde mich aber weiter in dessen Schaffen einarbeiten. Anhand der Fotos aus den Proben/Auftritten und der überwältigenden Klangdynamik des Orchesters ist zu erahnen, mit welchem Enthusiasmus die Aufnahmen entstanden sind.
Manchmal ist Musik viel mehr als nur 17 Musiker, die jeder eine Stimme spielen. Manchmal entsteht etwas, das fast greifbar ist, fast sichtbar. Etwas, das in uns Dinge bewegt, die auch nach dem Hören noch weiterschwingen und -klingen. So wie ein Wunder. Genau das ist dieses Album.
Bewertung: 15/15 Punkten
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Alle Abbildungen wurden uns freundlicherweise von Fun In The Church zur Verfügung gestellt.